Brüssel. Der EuGH rügt die EU-Kommission, weil sie Zugang zu Dokumenten über Impfstoffdeals verwehrte – für die Chefin eine Schlappe zur Unzeit.
Heftige Niederlage für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Nach einem Urteil des EU-Gerichtshofs hat von der Leyens Kommission mit der überzogenen Geheimhaltung bei den milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen gegen europäisches Recht verstoßen. Der Gerichtshof der EU (EuG) entschied in einem am Mittwoch veröffentlichten Urteil, dass die Kommission keinen hinreichend umfassenden Zugang zu den Verträgen gewährt habe – die entsprechenden Entscheidungen seien mit dem Urteil nichtig.
Die Entscheidung kommt für von der Leyen zu einem ungünstigen Zeitpunkt: nur einen Tag vor der Abstimmung im EU-Parlament über ihre zweite Amtszeit. Die Luxemburger Richter hatten über zwei Fälle zu entscheiden: Im ersten ging es um die Klage von fünf EU-Abgeordneten der Grünen, die Zugang zu den Impfstoffverträgen zwischen der Kommission und den großen Pharmaunternehmen beantragt hatten. Die Kommission gab den Anträgen nur teilweise statt und versah die Verträge mit umfangreichen Schwärzungen, woraufhin die Parlamentarier das EU-Gericht anriefen.
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Dabei ging es um Abkommen zum Kauf von Covid-19-Impfstoffen vor allem von AstraZeneca, Sanofi-GSK, Johnson und Johnson, BioNTechPfizer, CureVac und Moderna. Die Kläger, darunter die deutsche Grüne Jutta Paulus, argumentierten, mit diesen Eingriffen sei es unmöglich, den Inhalt der Vereinbarungen nachzuvollziehen – vor allem wollten sie Details zu den Preisen und zur Haftung.
EU-Kommission hatte Zugang zu Dokumenten versagt
Im zweiten Fall hatten zwei Rechtsanwälte aus Frankreich im Namen von 86.000 Unterzeichnern einer Petition bei der Kommission Zugang zu diesen Verträgen verlangt und außerdem Informationen angefordert, wer von EU-Seite an den Verhandlungen teilgenommen hatte. Auch dem war die Kommission nicht nachgekommen, woraufhin 2800 Unterzeichner Klage vor dem EU-Gericht erhoben.
Die Luxemburger Richter gaben den Klagen teilweise statt und erklärten die Entscheidungen der Kommission für nichtig, so weit sie fehlerhaft seien. So habe die Kommission vor allem bei den Entschädigungsbestimmungen und den Erklärungen über das Nichtvorliegen von Interessenkonflikten von Mitgliedern des Verhandlungsteams zu Unrecht den Zugang zu den Dokumenten versagt. Die Kommission habe etwa nicht ausreichend begründet, warum ein weitgehender Zugang zu den Klauseln über Entschädigungsregeln die geschäftlichen Interessen der Unternehmen beeinträchtigen würde.
Die Kommission habe zudem mit Verweis auf den Schutz der Privatsphäre von Personen den Zugang zu Dokumenten verweigert, obwohl daran ein öffentliches Interesses bestehe: Es lasse sich nämlich nur dann überprüfen, dass kein Interessenkonflikt bestehe, wenn die Namen und beruflichen Rollen der an den Verträgen beteiligten Personen vorliege. Die EU-Kommission hatte während der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 im Namen der Mitgliedstaaten umfangreiche Verträge zur Bestellung von Covid-Impfstoff unterzeichnet. Nach Daten des Europäischen Rechnungshofs unterzeichnete von der Leyens Behörde bis Ende 2021 Verträge im Wert von 71 Milliarden Euro, mit denen bis zu 4,6 Milliarden Impfstoffdosen gesichert wurden. Die EU-Kommission erklärte in einer ersten Stellungnahme, sie werde das Urteil sorgfältig auswerten. Das Gericht habe aber anerkannt, dass die Kommission den Zugang zu Teilen der Verträge verwehren durfte, etwa zum Standort der Produktionsstätten, zu Anzahlungen oder Lieferplänen.
Die Grünen-EU-Abgeordnete Kim van Sparrentak, die eine der Klägerinnen war, sagte dagegen: „Wir sind froh, dass das Gericht entschieden hat, dass die Kommission keinen ausreichend breiten Zugang zu den Kaufverträgen gewährt hat.“ Das Gericht habe damit die Bedeutung der Transparenz bestätigt: „Transparenz ist im Kampf gegen Impfskepsis und das Misstrauen der Bürger gegenüber öffentlichen Einrichtungen von grundlegender Bedeutung“, sagte die Grünen-Politikerin. Die Kommission könne nicht alle relevanten Inhalte in Verträgen automatisch für vertraulich erklären.
Der EU-Abgeordnete Fabio De Masi (BSW) forderte, nach diesem Urteil müsse von der Leyen auf ihre erneute Kandidatur als Präsidentin verzichten und stattdessen „die verheimlichten SMS sofort veröffentlichen“. Der EU-Abgeordnete Peter Liese (CDU) betonte dagegen, viele der von den Klägern angefochtenen Punkte seien nach Ansicht des Gerichts nichts zu beanstanden. Das Urteil heiße nicht, dass die Kommission „alles falsch gemacht hat“, meinte der Gesundheitsexperte. Sie hätte an einigen Stellen aber besser erklären müssen, warum sie bestimmte Passagen geschwärzt habe.
Zweite Klage verhandelt Deal von der Leyens mit Pfizer-Boss
Die Gerichtsentscheidung ist für von der Leyen brisant: Dass Abgeordnete des EU-Parlaments ihren Forderungen nach mehr Transparenz vor Gericht durchsetzen mussten, könnte von der Leyens Bemühungen torpedieren, in ebendiesem Parlament eine absolute Mehrheit für ihre erneute Wahl als Kommissionspräsidentin zu organisieren. Die Abstimmung ist für Donnerstagmittag geplant. Schon vor dem Urteil war mit einem knappen Ergebnis gerechnet worden, jetzt gibt es Spekulationen, es könnten schwankende Abgeordnete ins Lager der Neinstimmen abwandern.
Das Verfahren vor dem EuG ist nur der erste von mehreren Fällen, bei denen das Verhalten der EU-Kommission und von der Leyen persönlich im Zusammenhang mit der Corona-Impfstoffbeschaffung auf den juristischen Prüfstand kommt. Dazu ermittelt neben der belgischen Justiz auch die Europäische Staatsanwaltschaft. Vor dem belgischen Gericht geht es in einer Klage explizit um den Vorwurf des Amtsmissbrauchs, der Vernichtung von Dokumenten und der Korruption gegen von der Leyen im Zusammenhang mit einem gigantischen Biontech-Impfstoff-Deal: Dieser Vertrag regelt den Kauf von bis zu 1,8 Milliarden Dosen des Biontech-Impfstoffs für eine Summe von rund 35 Milliarden Euro. Weil so viel Vakzin gegen Corona jetzt gar nicht mehr gebraucht wird, hatten zahlreiche EU-Mitgliedstaaten später versucht, die Bestellung teilweise zu stornieren – sie konnten aber bislang nur eine zeitliche Streckung der Lieferungen erreichen.
Den Deal soll die Präsidentin direkt mit dem Chef des US-Pharmakonzerns Pfizer, Albert Bourla, eingefädelt haben. Bereits der Europäische Rechnungshof hatte in einem Prüfbericht kritisiert, von der Leyen habe an Verfahrensregeln vorbei den Pfizer-Deal selbst vorverhandelt, gebe aber keine Auskünfte. Der Europäische Gerichtshof muss auch noch über eine Klage entscheiden, mit der die „New York Times“ die Offenlegung von SMS-Kurznachrichten fordert, die von der Leyen mit Bourla ausgetauscht haben soll.
Meist handelt es sich bei den Impfstoff-Verträgen um Abnahmegarantien, bei denen die Kommission das Risiko der Entwicklung eines Impfstoffs gemeinsam mit den Impfstoffherstellern trug und den Aufbau der erforderlichen Produktionskapazitäten unterstützte, indem sie Vorauszahlungen aus dem EU-Haushalt leistete. Im ersten Halbjahr 2021 war es in der EU zu Lieferengpässen gekommen, was von der Leyen politisch massiv unter Druck der Mitgliedstaaten setzte. Bis zum Ende des Jahres waren dann aber fast 952 Millionen Impfstoffdosen an die EU-Mitgliedstaaten geliefert und etwa 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der EU vollständig geimpft worden.
Name | Ursula von der Leyen |
Geburtsdatum | 8. Oktober 1958 |
Amt | Präsidentin der Europäischen Kommission |
Partei | CDU |
Parteimitglied seit | 1990 |
Familienstand | verheiratet |
Wohnort | Burgdorf-Beinhorn |