Berlin. Altkanzlerin Angela Merkel hält immer noch viele Facetten ihrer Persönlichkeit bedeckt. Das macht die Spurensuche umso interessanter.
„Sie kennen mich“, behauptete Angela Merkel 2013 selbstbewusst gegenüber Millionen am Fernseher im TV-Duell mit SPD-Herausforderer Peer Steinbrück und gewann anschließend haushoch die Wahl. Der Satz war ein Placebo. Er gaukelte Nähe vor, die man mit Angela Merkel nie haben konnte. Er formulierte vielleicht ein Bauchgefühl der Deutschen, die ihr mehrheitlich stark vertrauten. Aber man kannte allenfalls ihre Politik. Selbst engste Berater kannten die Kanzlerin nicht wirklich, wie sie heute zugeben. Angela Merkel ist auch an ihrem 70. Geburtstag ein Mensch, der viele Facetten seiner Persönlichkeit bedeckt hält. Das macht die Spurensuche umso interessanter.
Die Gesamtdeutsche
Angela Merkel wird am 17. Juli in Hamburg als Pfarrerstochter geboren. Wenige Wochen nach der Geburt zog ihr Vater, der evangelische Theologe Horst Kasner, mit der kleinen Angela Dorothea und Mutter Herlind Kasner in das Dorf Quitzow im Brandenburgischen, um eine Stelle als Pfarrer anzutreten. Der Wechsel von West nach Ost prägte nach dem Mauerbau das Persönlichkeitsmerkmal, mit dem Angela Merkel immer haderte: die Ostdeutsche. Angela Merkel arrangierte sich als Kind und Studentin mit dem System und litt unter Unfreiheit wie viele DDR-Bürger auch.
Es hat durchaus eine Bedeutung, dass Merkels Memoiren im November erscheinen und den Titel „Freiheit“ tragen. Recherchen von Investigativjournalisten über eine außergewöhnliche Systemtreue Merkels führten ins Nichts. Der Mauerfall kam wie der Mauerbau schicksalhaft über Merkel und eröffnete ihr eine Karriere, die einzigartig bleibt. Erst die späte Angela Merkel sucht intensiver die Auseinandersetzung mit ihrer ostdeutschen Identität. Diese Identität war ein politisches Pfund, das sie in der Phase ihrer größten Macht nie bewusst in die Waagschale warf.
Die Frau
Es war eine absurde Debatte, geführt unter den männlichen Silberrücken der CDU, ob Merkels Kanzlerschaft als eine besondere in die Geschichte eingehen würde. Wolfgang Schäuble hatte diese Debatte enttäuscht befeuert, nachdem er sich mit Angela Merkel überworfen hatte. Die Kanzlerschaft Merkels ist historisch, das steht bereits fest und das war auch Schäuble klar. Angela Merkel ist die erste Frau im mächtigsten Amt der Republik, auch wenn sie die Karte Frau nie gespielt hat. Sie ist Wellenbrecherin für eine Generation von Politikerinnen, ohne ihr Geschlecht je politisch instrumentalisiert zu haben. Jetzt, im Alter, werden Konturen der Feministin Angela Merkel sichtbar. Es dauerte bis zum Jahr 2021, bis Angela Merkel im Gespräch mit der Publizistin Miriam Meckel erstmals den Satz sagte: „Ja, ich bin Feministin.“ Angela Merkel hat dieses Bekenntnis für ihre Karriere nicht gebraucht. Sie hatte die Männerwelt schnell durchschaut und ihre Gegner mit deren Waffen geschlagen. Ihre spezielle „Uniform“ – Blazer und Hose – half ihr dabei.
Mehr zur Altkanzlerin: Was macht Angela Merkel eigentlich heute?
Die Erfolgreiche
Angela Merkel steht für eine lange Phase wirtschaftlichen Aufschwungs und des Wohlstands. Exporte, Arbeitslosenstatistik – unter ihrer Amtszeit wurden etliche Bestmarken geknackt. In ihren Amtszeiten war die Wirtschaftskraft Europas führender Industrienation ungefährdet. Zwei bedrohliche Finanzkrisen hat sie mit eisernen Nerven – und kompetenten Finanzministern – abgewehrt. Als die Deutschen 2008 nervös begannen, die Geldautomaten zu leeren, gab sie ein historisches Versprechen: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.“ Mit diesem Satz hatte Angela Merkel hoch gepokert – und gewonnen. Dieser Sieg war wohl der deutlichste Beweis für das große Vertrauen, das die Mehrheit der Deutschen lange Zeit in ihre Politik setzte. Ohne dieses Vertrauen, da sind sich die Experten sicher, wäre die Finanzkrise für Deutschland schlimmer ausgegangen.
Die Gescheiterte
Drei Entscheidungen werfen aus der Perspektive von heute Schatten auf Angela Merkels Kanzlerschaft. Es sind Entscheidungen in der Migrationspolitik, zum Atomausstieg und Energieabhängigkeit von Russland. Sie haben Deutschland in Europa in Teilen isoliert und ziehen schwerwiegende Konsequenzen nach sich. Es waren zutiefst christliche Gründe, die die Pfarrerstochter dazu bewegten, 2015 die Grenzen zu öffnen. Aber die Kanzlerin muss sich vorwerfen lassen, dass sie den Zustrom von Migranten zu lange ungeregelt ließ und sich auf europäischer Ebene zu wenig um das Thema kümmerte. Sie nahm sogar Rechtsverstöße in Kauf, so sahen es jedenfalls Top-Beamte in ihrer eigenen Regierung. Merkels Politik hinterlässt bis heute Spuren in der Kriminalitätsstatistik und es fällt ihrem Nachfolger erkennbar schwer, die Versäumnisse aus Merkels Amtszeit aufzuarbeiten.
- Politik-News: Die wichtigsten Nachrichten des Tages aus der Bundespolitik im Blog
- Podcast: Habeck sieht „Seelenverwandtschaft“ mit Selenskyj
- Neue Zahlen: Nebeneinkünfte im Bundestag – Das sind die Top-Verdiener
- „Ärgerlich und gefährlich“: Die Grünen und das Thema Israel
- 10 Jahre Pegida: Wie der „Startschuss“ von AfD & Co. nachhallt
Den Ausstieg aus der Atomkraft, kurz nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, betrieb die Physikerin Angela Merkel wider besseres Wissen. Die Folge ist eine gespaltene europäische Energiepolitik. Unsere direkten Nachbarn Frankreich, die Niederlande und Polen setzen auf Atom um ihre Industrie zu retten, ohne das Klima weiter zu gefährden. Deutschland feuert dagegen mit Gas- und Kohlekraftwerken und hofft auf den Durchbruch der erneuerbaren Energien. Diese Spaltung ist unlogisch, schließlich kennt Strahlung keine Grenzen, und schadet auch der Integration Europas. Dass die Kanzlerin die Energieabhängigkeit von Russland nicht spätestens nach der Krim-Invasion zu ändern versuchte, wird sie selbst heute als Fehler ansehen.
Die Private
Alpenwandern, Bratheringe, Gärtnern und Wagner-Opern – die privaten Vorlieben der Altkanzlerin sind sattsam bekannt. Dass sie zu allen Anlässen aufgezählt werden, zeigt, wie wenig Privates Angela Merkel in ihren 70 Jahren zugelassen hat. Fragen nach dem Privatleben waren in jedem Interview der Stimmungskiller und wurden mit schneidendem Ton abmoderiert. Intime Einblicke bekommt nur ein winziger, ausgewählter Kreis an langjährigen Verbündeten wie ihre ehemalige Büroleiterin Beate Baumann und die Familie. Das frustriert alle Neugierigen und Klatschjournalisten, aber war ein wichtiger Schutzkokon für eine Frau, die 16 Jahre lang auf Schritt und Tritt von Kameras verfolgt wurde. Man sollte Merkel diese Privatheit gönnen, denn nur so konnte sie maximal wirken.
Die Unprätentiöse
Kein Regierungschef war vor Angela Merkel so uneitel und bescheiden. Der Kanzlerin, die ihren Gästen stets persönlich den Kaffee einschenkte, war übertriebener Luxus und das Gewese ums Protokoll im Amt stets fremd. Königsberger Klopse statt Hummer, VW Golf privat statt Mercedes, Etagenwohnung statt bewachter Villa mit Garten. Zwei-Sterne-Pension statt Wellness-Hotel. Mit ihrer bescheidenen Art ist Merkel bis heute ein Vorbild und den Steuerzahlern ginge es besser, wenn alle in der Politik so wären. Die einzige Ausnahme ist ihr gut ausgestattetes Kanzlerinnen-Büro, in dem sie hart an den Memoiren gearbeitet hat. Die hohen anfallenden Kosten sieht Merkel auch als eine Entschädigung für ihren selbstlosen Einsatz über 16 Jahre, der sie – auch körperlich – an den Rand ihrer Kräfte geführt hat.
Die Beleidigte
Es ist keine Beleidigung, sondern gehört zur vollständigen Beschreibung, wenn man Angela Merkel zum 70. Geburtstag eine ausgeprägte Dickköpfigkeit attestiert. Persönliche Befindlichkeit schlägt ausgerechnet bei der vernunftbetonten Wissenschaftlerin stärker durch, als es gut für die Partei ist. Merkel hat ihrer Partei, der sie 18 Jahre lang vorsaß, die Ausnahmekarriere zu verdanken. Daher war es ein Affront, dass sie der Einladung zum Bundesparteitag nicht folgte und sich lieber mit Jürgen Trittin zeigte und eine Geburtstagslaudatio auf den ehemaligen politischen Gegner hielt. Ihr öffentliches Bekenntnis, bevorzugt „Wohlfühltermine“ wahrzunehmen, war für viele Menschen nachvollziehbar. Dass ein Besuch beim wichtigsten Parteitag der CDU nicht dazu zählt, enttäuscht allerdings auch treue Merkel-Anhänger.
Der Frust über den gelungenen Durchmarsch von Friedrich Merz ist bei Angela Merkel bis heute stärker als der Impuls, der Partei in schwierigen Zeiten zu helfen. Kluge Menschen aus der Union raten dazu, jetzt Brücken zur Altkanzlerin zu bauen, damit die Kluft nicht noch größer wird. „Man sollte ihr dabei helfen, zurückzukehren“, ist so ein Satz, den CDU-Insider sagen, denen sowohl die Partei als auch Angela Merkel am Herzen liegen. Es wäre zum 70. Geburtstag das wertvollste Geschenk, das ihr die CDU machen könnte.