Kirchboitzen. Der Agrarminister in schwieriger Mission – er muss Menschen auf dem Land für die Grünen begeistern. Und bald vielleicht auch für sich.
Das halbe Dorf ist auf den Beinen. Drei lange, überdachte Wagen rumpeln über die kleinen Straßen von Kirchboitzen in Niedersachsen, gezogen von Treckern, immer hinterher ein Schwarm von Menschen auf Fahrrädern. Die Feuerwehr, der Sportverein, der Verein zur Förderung der Dorfgemeinschaft, alle sind dabei, und an jedem Halt kommen noch ein paar mehr Menschen dazu. Der Grund für den Auflauf sitzt auf einem der Wagen: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir besucht am Dienstag das 600-Einwohner-Dorf in Niedersachsen.
Der grüne Minister ist unterwegs, vier Tage lang quer durch die Republik, um „die Kraft unseres Landes“ zu zeigen, wie die offizielle Überschrift der Reise sagt. Für Ministerinnen und Minister sind diese Touren eine Chance, in den ruhigeren Tagen der parlamentarischen Sommerpause Aufmerksamkeit zu schaffen für ihre Themen, und ein bisschen auch für sich selbst. Sie sind aber immer auch eine Art Praxistest, eine Gelegenheit, vor Ort die Stimmung im Land zu erfahren. Und für Cem Özdemir sind die Ergebnisse dieses Tests gleich mehrfach wichtig.
Als Landwirtschaftsminister ist er der Mann der Grünen für die ländlichen Räume. Es ist kein Geheimnis, dass das Themenfeld seines Ressorts kein jahrelanges Herzensanliegen des heute 58-Jährigen war, als er 2021 das Haus übernahm. Doch Özdemir findet sich wieder an einer Schlüsselstelle für seine Partei, die auch mehr als 40 Jahre nach den Anfängen immer noch den Ruf nicht loswird, ein Club der Städter zu sein. Das zu ändern, ist wichtig für die Grünen – aber auch für Özdemir selbst, sollte er sich entscheiden, statt Bundesminister Landesvater in Baden-Württemberg werden zu wollen.
Cem Özdemir: „Hier liegt die Zukunft unseres Landes“
In Kirchboitzen hat der Wagenzug den Minister auf dem Sportplatz abgesetzt. Das Dorf will dort über die Erfolge in der Jugendarbeit sprechen, über die guten Nachwuchszahlen bei den Vereinen. Rund 40 Kinder und Jugendliche aus den verschiedenen Clubs stehen im Kreis und spielen ein Spiel, bei dem zwei Teams versuchen, einen Ball jeweils schneller weiterzugeben als die Gegner. Özdemir, in Hemd und Anzughose, schaut sich das einen Moment an, bevor er sich dazustellt und mitmacht. Mit großem Einsatz versucht er, seinem Team zum Sieg zu verhelfen.
Die Kirchboitzener sehen den Minister nicht zum ersten Mal. Weil ihr Dorf im vergangenen Jahr den Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ gewonnen hat, waren einige von ihnen im Januar in Berlin, wo Özdemir auf der Grünen Woche die Preise überreichte. Der Gegenbesuch geht als Wohlfühltermin für den Grünen durch. Vor Ort lobt Özdemir das Engagement der Menschen für ihr Dorf, hebt ländliche Gebiete hervor als entscheidend für den Zusammenhalt der Gesellschaft: „Hier liegt die Zukunft unseres Landes“, sagt er.
Doch selbst in dieser Kulisse, zwischen der Grundschule und der genossenschaftlich organisierten Dorfkneipe, gibt es Unmut. Derjenige, der den vorträgt, ist Reinhard Evers. Der 70-Jährige in Karohemd und Strohhut ist Schweinezüchter und Biogasproduzent, und verzweifelt an den Regelungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Alles zu steif, alles zu praxisfremd, findet Evers: „Ich könnte noch eine halbe Stunde weitermachen.“ So viel Zeit ist nicht eingeplant an diesem Tag. Trotzdem, er wolle das alles wissen, sagt Cem Özdemir, und bittet Evers, seine Klagen per E-Mail an sein Büro zu schicken.
Cem Özdemir ist beliebt in der Stadt. Aber auch auf dem Land?
„Er ist mitgegangen, er hat begriffen, wovon ich spreche“, sagt der Landwirt hinterher. Es klingt nicht unfreundlich, er hat nichts gegen den Özdemir persönlich, sagt Evers. Aber wenn man ihn fragt, ob er mit dessen Politik für die Landwirtschaft zufrieden sei, schüttelt er, ohne zu zögern, den Kopf. „Nee“, sagt Evers und stemmt die Hände in die Hüften, zufrieden sei er damit nicht. „Er ist stets bemüht.“ Aber am Ende könne er sich nicht durchsetzen.
Der Minister und das Land: Auch für Özdemir persönlich ist es wichtig, dass das funktioniert. Nicht nur für seinen aktuellen Job, auch für den eventuell nächsten. Die Möglichkeit, dass er antreten könnte, um das Erbe Winfried Kretschmanns in Stuttgart und die einzige grün geführte Landesregierung zu verteidigen, steht seit Längerem im Raum. Bis zum Herbst, wenn die Listen für die nächste Bundestagswahl aufgestellt werden, muss eine Entscheidung fallen. Sollte Özdemir nicht für den nächsten Bundestag kandidieren, wäre das ein deutlicher Fingerzeig in Richtung der Landtagswahl 2026.
Özdemir ist beliebt, auch und gerade in Baden-Württemberg. Der Mann aus Bad Urach holte in seinem Wahlkreis bei der vergangenen Bundestagswahl das Direktmandat mit 40,0 Prozent, das beste Erststimmenergebnis seines Landesverbands. Der Wahlkreis allerdings ist Stuttgart I, mithin das Urbanste, was Baden-Württemberg zu bieten hat. Reicht das?
Reinhard Evers jedenfalls ist mit seiner Einschätzung von Özdemirs Arbeit nicht allein. Auch beim mächtigen Bauernverband hat sich nach drei Jahren der Eindruck durchgesetzt, Özdemir höre sich die Kritik der Bauern zwar an, sage Dinge, die gut für sie klängen. Doch am Ende stimmt aus Sicht des Verbands das Ergebnis nicht. Das Agrarpaket etwa, das eine Reaktion auf die Proteste zu Beginn des Jahres sein sollte und auf das sich die Ampel-Fraktionen vor kurzem geeinigt hatten? Höchstens ein „Päckchen“, sagt Verbandspräsident Rukwied. In Baden-Württemberg jedenfalls gibt es viele Landwirte.
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