Brüssel/Washington. Bem Nato-Treffen geht es nicht ums Feiern, sondern um Krieg und Krisen: Was das Bündnis tun muss, ist klar. Warum wird es nicht getan?
Eigentlich hätte die Nato gute Gründe, ihr 75-jähriges Jubiläum beim Gipfel in Washington pompös zu feiern: Die Allianz, die rund eine Milliarde Menschen in Europa und Amerika schützt, ist nicht nur das größte Militärbündnis der Welt, sondern auch das erfolgreichste. Mit ihrem Gründungs-Grundsatz, dass ein Angriff auf ein Mitglied ein Angriff auf alle ist, hat die Nato seit 1949 den Frieden auf ihrem Territorium gesichert – und ist dabei größer und leistungsfähiger geworden. Aber bleibt das so? Ausgerechnet zur großen Jubiläumsfeier hat sich ein neues Gefühl der Unsicherheit breit gemacht.
Die Gefahren sind größer als jemals zuvor seit Ende des Kalten Krieges: von außen, seit Russland vor gut zwei Jahren die Ukraine überfallen hat. Kremlherrscher Putin rüstet noch während dieses Krieges weiter auf und wird dabei durch eine unheilige Allianz von China, Nordkorea und Iran unterstützt. Zugleich gerät im Innern die Stabilität der Allianz unter Druck: In Frankreich, eine von drei Atommächten der Nato, ist Präsident Macron angeschlagen, der Kurs des Landes ist ungewiss. Der ungarische Ministerpräsident Orban droht zum trojanischen Pferd autoritärer Regime zu werden. Vor allem aber geriete der zentrale Stützpfeiler der Nato, die USA, ins Wanken, wenn der nächste Präsident wieder Trump heißen sollte.
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Dass die USA unter seiner Führung das Bündnis verlassen würden, wie Trump es gelegentlich androhte, ist unwahrscheinlich. Gerade Amerika braucht Verbündete. Aber es wäre gefährlich genug, wenn Trump weiter Zweifel an den Beistandsgarantien der USA nähren und damit die Glaubwürdigkeit der gesamten Abschreckung untergraben sollte – auf dass Putin sich doch ermutigt fühlt, durch Zündeleien im Baltikum die Nato zu testen. Die Allianz hat einiges getan, um sich wetterfest zu machen für eine neue Trump-Präsidentschaft.
Die Einsicht, dass Europa so oder so mehr für die eigene Verteidigung tun muss, setzt sich durch. Aber dieser Erkenntnis folgt noch immer zu wenig die konsequente Tat: Die Verteidigungsausgaben der europäischen Nato-Staaten sind zwar gestiegen, aber sie entsprechen weiter nicht den Notwendigkeiten. Auch Kanzler Scholz wird sich in Washington nach den Haushaltsbeschlüssen der Ampel zu Recht kritischen Fragen stellen müssen. An Konsequenz der Allianz fehlt es ebenso bei der Hilfe für die Ukraine. Dass der Gipfel dem Land nicht mitten im Krieg eine förmliche Einladung zum Nato-Beitritt ausspricht, ist nachvollziehbar. Doch hätte die Ukraine Anspruch auf eine glaubwürdige, auch zeitlich konkrete Perspektive für die spätere Aufnahme.
Unverantwortlich aber ist die Zögerlichkeit, die viele Nato-Mitglieder bei der Waffenhilfe und erst recht bei längerfristiger Unterstützung der Ukraine an den Tag legen. Es braucht jetzt, gerade nach den jüngsten Raketenangriffen Russlands, einen neuen Schub für die Lieferung vor allem von Luftabwehr-Systemen. Deutschland ist da mit gutem Beispiel vorangegangen, andere Länder weigern sich. Die Nato muss zugleich den Willen demonstrieren, notfalls auch einen langen Konflikt mit Russland durchzustehen. Putin spekuliert weiter auf eine nachlassende Bereitschaft des Westens, der Ukraine so lange wie nötig militärisch, finanziell und politisch zu helfen. Dieses Kalkül müssen die Nato-Staaten endlich mit aller Wucht durchkreuzen: Erst wenn der Kremlherrscher verstanden hat, dass er in diesem Krieg nichts mehr gewinnen kann, besteht Aussicht auf ein Ende des Konflikts.