Berlin. Der neue Verfassungsschutzbericht zeigt: Rechte Straftaten nehmen zu – doch auch die Anzahl islamistischer Gefährder wird größer.
Ein blauer Einband, darauf ein Foto des Grundgesetzes, 408 Seiten lang: An diesem Dienstagmorgen wurde der Verfassungsschutzbericht 2023 vorgestellt. Er fasst zusammen, was die innere Sicherheit gefährdet. Und welche Angriffe es bereits gibt. Darüber wollen Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Thomas Haldenwang sprechen. Sie sehen ernst aus bei ihrem Auftritt. Haldenwang ist Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz und sagt, es gebe „wenig Positives“ zu berichten. Faeser setzt hinzu, die Demokratie sei „unter Druck“.
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Schnell wird anhand der Zahlen klar: Besonders die Gefahr von rechts wächst. Im Vorwort schreibt Faeser in dem Bericht: „Im Jahr 2023 ist die Zahl der Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund um fast ein Viertel auf rund 29.000 angestiegen.“ Doch es sind nicht nur die Rechten, die gefährlich sind. Im Bericht wird jedoch deutlich: Auch Linke und Islamisten wollen mit radikalen Methoden ihre Ziele durchsetzen.
Wie groß ist die Gefahr durch Rechtsextremisten?
Kurz gesagt: groß. Der Verfassungsschutz glaubt, dass die rechtsextreme Szene in Deutschland etwa 40.600 Personen umfasst. Innerhalb dieser Gruppe liegt die Zahl der gewaltbereiten Extremisten bei 14.500. Dies entspricht einem Anstieg des rechtsextremen Potenzials um 4,6 Prozent. Gleichzeitig gibt es eine Zunahme von rechtsextremen Gewaltverbrechen um etwa 13 Prozent – davon sind über 90 Prozent Fälle von Körperverletzungen. Die Szene wird größer. Und gewalttätiger.
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Ein Teil der rechten Szene hat sich besonders radikalisiert. Am Dienstag begann vor dem Oberlandesgericht München der dritte große Prozess gegen angebliche „Reichsbürger“ der Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Es geht um den Verdacht, einen gewaltsamen Sturz der Bundesregierung geplant und dabei den Tod von Menschen bewusst in Kauf genommen zu haben. Es sei ein Erfolg der Sicherheitsbehörden, dass man das Netzwerk frühzeitig erkannt habe und dagegen vorgegangen sei, sagte Faeser in der Pressekonferenz. Und: „Wir erkennen, dass sich die Akteure der neuen Rechten versuchen, Kontakte ins bürgerliche Spektrum zu knüpfen.“ Dafür sei auch das Vernetzungstreffen in Potsdam Ende des letzten Jahres ein Beleg gewesen, wo es um die Ausweisung von vermeintlichen Ausländern gegangen sein soll. Auch die Zahl rechtsextremistischer Demonstrationen sei gestiegen. Zentrale Themen waren Anti-Asyl und Migration.
Welche Rolle spielt die AfD dabei?
Die AfD wird aktuell vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall betrachtet. Sie gilt damit als „Beobachtungsobjekt“. Kürzlich hatte ein Urteil des Oberlandesgerichts Münster diese Einschätzung bestätigt. Haldenwang sieht das Urteil als Erfolg für die Arbeit seiner Behörde.
Der Verfassungsschutz ist damit befugt, nachrichtendienstliche Methoden bei der AfD anzuwenden: Dazu gehört die Rekrutierung von V-Leuten, also Informanten aus dem Umfeld der Partei, die dann über Interna berichten. Zudem darf die Behörde Personen überwachen und, unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen, auch deren Telekommunikation kontrollieren.
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Die Frage ist, ob die AfD auch rechtsextremistisch ist – dazu wolle der Verfassungsschutz die schriftliche Urteilsbegründung aus Münster abwarten, sagte Haldenwang. Diese werde sicher „umfangreich und umfassend“ ausfallen. Dann könne man auch zu dem Schluss kommen, ob die Maßnahmen des Verfassungsschutzes künftig noch weiter gehen. Innenministerin Faeser erklärte, politisch jedoch bleibe sie dabei, dass man der AfD inhaltlich entgegentreten sollte – anstatt ein Verbot anzustreben.
Welche Gefahr droht von Linksextremisten?
Laut dem Bericht sind die linksextremistisch motivierten Straftaten um etwa zehn Prozent gestiegen. Etwa 37.000 Personen sind in der linksextremen Szene, 11.200 von ihnen gelten als gewaltbereit. Die Art linker Angriffe umfasst dabei ein breites Spektrum: Übergriffe auf Polizeibeamte und politische Gegner zählen ebenso dazu wie wiederholte Angriffe auf das Stromnetz – der Schaden insgesamt geht in die Millionenhöhe.
Auch über den Anschlag auf das Tesla-Werk in Brandenburg in diesem März, den eine linke Gruppe für sich reklamiert, sprachen Haldenwang und Faeser. So etwas sei nicht zu tolerieren, war die Botschaft. Bei dem Anschlag wurden auch umliegende Gebäude von der Stromversorgung abgeschnitten. „Wenn in Kliniken und Hausarztpraxen der Strom ausfällt, ist das eine große Gefahr für Bürgerinnen und Bürger“, sagte Innenministerin Faeser dazu.
Warum ist eine Klimaschutzbewegung im Bericht zu finden?
In dem Bericht wird erstmals eine Klimaschutzbewegung als extremistischer Verdachtsfall benannt. Es geht dabei um die Gruppe „Ende Gelände“, in dem Bericht ist von einer „Verschärfung von Aktionsformen bis hin zur Sabotage“ die Rede. Interne Papiere der Gruppe lassen nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz zudem „deutlich eine Radikalisierung im Hinblick auf die vorherrschenden ideologischen Positionen der Gruppierung erkennen“. Im April hatten rund 100 Aktivisten der Gruppe in Gelsenkirchen das Steinkohlekraftwerk Scholven blockiert. Zu möglichen Kooperationen von jungen Mitgliedern bei Grünen und Linken mit den Klimaaktivisten sagte Innenministerin Faeser: „Ich empfehle den Jugendorganisationen, die Zusammenarbeit zu beenden.“
Wie verändert der Krieg im Nahen Osten die deutsche Sicherheitslage?
Die Folgen des Nahostkonflikts werden in dem Bericht mit einem eigenen Kapitel beschrieben. Haldenwang sagt, der neu aufgeflammte Krieg habe „wie ein Brandbeschleuniger für den Antisemitismus in Deutschland“ gewirkt. Es gebe zudem mehr antisemitische Vorfälle. Bei propalästinensischen Demonstrationen sei ein Zusammenspiel von palästinensischen Extremisten und Islamisten zu beobachten. Während Hamas- und Hisbollah-Anhänger sich öffentlich zurückhaltend zeigten, nutzten andere islamistische Gruppierungen die Situation aus und riefen zu weltweiten Anschlägen auf jüdische Menschen und Einrichtungen auf, trotz ideologischer Unterschiede zur Hamas. Soziale Medien spiegelten die Eskalation im Nahen Osten stark wider.
Die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus habe sich „weiter erhöht“, wobei das Personenpotenzial konstant bei etwa 27.200 liegt. Die größte Gefahr gehe von Einzeltätern und Kleingruppen aus, die kurzfristig und mit minimaler Organisation agieren. „Doch auch koordinierte, komplexe, langfristig geplante Anschläge bleiben in Deutschland jederzeit denkbar“, betonte Faeser.
Welche Reaktionen gibt es aus der Politik?
Irene Mihalic, erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, und Konstantin von Notz, Vize-Fraktionsvorsitzender, wollen politische Konsequenzen aus der Vorstellung des Berichts ziehen. Die beiden Grünen-Politiker teilen mit: „Wir müssen unmittelbar darauf hinwirken, dass Polizistinnen und Polizisten besser ausgestattet sind, auch um sich besser vor gegen sie gerichtete Gewalt schützen zu können.“ Im Bereich der inneren Sicherheit könne man sich einen „Sparwahn nicht leisten“.
Der FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle sagte dieser Redaktion über den Bericht: „Vor allem während der derzeit laufenden Fußball-EM besteht eine hohe Gefährdung durch islamistisch motivierte Anschläge. Es ist gut, dass die Sicherheitsbehörden diese Gefahr im Blick haben.“