Berlin. Die Annahme, dass erst in einer Villa an dem Berliner See die Ermordung der Juden beschlossen wurde, ist weit verbreitet – und falsch.
Auf den ersten Blick ist die Ähnlichkeit der Häuser frappierend. Die Villa der Wannseekonferenz und das Landhaus Adlon bei Potsdam, in dem Rechtsradikale im November 2023 über Möglichkeiten zur Deportation von Ausländern und Deutschen mit ausländischen Wurzeln beraten haben, gleichen einander sehr in der Architektur und ihrer Lage am See. Dass die Themen der Konferenzen aus den Jahren 1942 und 2023 inhaltlich zumindest verwandt waren, nämlich rassistisch motiviert, legt die Assoziation des einen Ortes mit dem anderen nahe.
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In ihrem Anfang Januar erschienenen Bericht über das geheime Treffen spekulierten die Autoren der Rechercheplattform „Correctiv“ beziehungsreich: „Womöglich ist es auch Zufall, dass die Organisatoren gerade diese Villa für ihr konspiratives Treffen gewählt haben: Knapp acht Kilometer entfernt von dem Hotel steht das Haus der Wannseekonferenz, auf der die Nazis die systematische Vernichtung der Juden koordinierten.“ Zufällig jährt sich auch gerade an diesem Samstag jener 20. Januar 1942, an dem sich 15 Männer aus der Führung des NS-Staates über die gezielte Ermordung von Millionen Juden verständigt haben.
„Endlösung der Judenfrage“ – und anschließend ein Frühstück
Es war ein winterlich frostiger Dienstag, als die Herren gegen Mittag zu ihrer „Besprechung mit anschließendem Frühstück“, wie es in der Einladung des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich hieß, in dunklen Limousinen Am Großen Wannsee 56–58 vorfuhren. Die SS hatte die 1916 erbaute Industriellenvilla 1940 als diskretes Gästehaus für ihre Offiziere gekauft. Teilnehmer der Konferenz waren vor allem Staatssekretäre aus verschiedenen Ministerien und Dienststellen der SS, die in nur 90 Minuten die wesentlichen organisatorischen Voraussetzungen für die „Endlösung der Judenfrage“ besprachen.
Adolf Eichmann, Leiter des „Judenreferats“ im Reichssicherheitshauptamt, hielt das Ergebnis der Besprechung in einem Protokoll fest. Demzufolge eröffnete Heydrich den Teilnehmern, dass auf der Grundlage einer „vorherigen Genehmigung“ Adolf Hitlers die Deportation aller europäischen Juden nach Osteuropa bevorstünde. Die „Federführung bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage“ liege ohne Rücksicht auf geografische Grenzen ausschließlich bei ihm.
„Fast nicht mehr revidierbaren Irrtum der Geschichtsschreibung“
Zur Umsetzung dieses Vorhabens heißt es in dem Protokoll: „In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.“ Die Formulierung „entsprechend behandelt werden“ umschreibt nach vorherrschender Lesart die Ermordung der Juden, die bis dahin überlebt haben.
Die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz bezeichnet die verbreitete Annahme, hier seien diese Gräueltaten überhaupt erst beschlossen worden, als „fast nicht mehr revidierbaren Irrtum der Geschichtsschreibung und der Publizistik“. Tatsächlich wurde am Wannsee der bereits laufende Völkermord koordiniert und den höchsten Beamten aller wichtigen Ministerien zur Kenntnis gebracht. Das war die Voraussetzung dafür, dass die organisierte Vernichtung der Juden die notwendige Unterstützung staatlicher Stellen und ihrer zahllosen Schreibtischtäter erhielt.
Die Staatssekretäre setzten um, was auf der höheren politischen Ebene des Naziregimes längst beschlossen worden war. Der zufällig erhalten gebliebene Protokolltext dokumentiert in kalter, bürokratischer Sprache die Absicht zur Ermordung aller europäischen Juden, das prinzipielle Einverständnis und die effektive Beteiligung des deutschen Staatsapparates am Völkermord. Dem Protokollführer Eichmann gelang nach dem Krieg die Flucht nach Argentinien. Israelische Agenten entführten ihn 1960 in einer spektakulären Aktion. Er wurde in Israel vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und in der Nacht zum 1. Juni 1962 erhängt.
Die Banalität des Bösen: Erst Morde planen, dann den Urlaub
Wir verdanken Hannah Arendt und ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess die Erkenntnis über die Banalität des Bösen: dass eben nicht entmenschlichte Bestien das Massenmorden an den Juden beschlossen und vor allem ins Werk gesetzt haben, sondern Familienväter, preußisch geschulte Beamte und Juristen, Offiziere und Mannschaften, die ansonsten viel auf ihre deutsche Soldatenehre gaben. Allesamt Männer, die sich am Rande der Konferenz in der gediegenen Wannseevilla über das Wetter, ihre Kinder und künftige Urlaube unterhielten.
Die Banalität des Bösen drückt sich auch in dem friedlichen Ort der Konferenz aus, ebenjener großbürgerlichen Villa am See. Nur wenige Häuser weiter steht die Villa von Max Liebermann, dessen Witwe die Nazis zum Zeitpunkt der Konferenz längst aus ihrem Haus vertrieben hatten. So zeigt sich, wie wenig vergleichbar die Wannseekonferenz und jenes geheime Treffen einiger rechtsradikaler Strategen und Politiker der AfD in der Potsdamer Villa vom vergangenen November einerseits sind. Deutschland war im Januar 1942 eine durchorganisierte Diktatur im dritten Kriegsjahr, es tagten hohe Beamte und Funktionäre dieses Staates.
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Die Bundesrepublik des Jahres 2023 ist aber eine stabile Demokratie, und an der Konferenz nahmen zwei Dutzend Männer und Frauen ohne wichtige Funktionen teil. Andererseits sind die Parallelen zwischen den Konferenzteilnehmern damals und heute im Gedankengut, der völkischen Vision einer rein weißen Gesellschaft und der Bereitschaft zur Deportation unliebsamer Bevölkerungsgruppen, nicht zu übersehen. Auch die Nationalsozialisten haben sich zunächst am Rande der Gesellschaft gesammelt – und sind dann in ihre Mitte vorgedrungen.
Wie Recherchen verschiedener Medien zeigen, war dies offenbar nicht das erste Treffen des rechten Netzwerks im feinen Landhaus am Lehnitzsee aus den 1920er-Jahren, das mit seinem Portal der Wannseevilla so ähnelt. Und so warnen führende Juristenvereinigungen wie der Deutsche Richterbund durchaus besorgt, das Treffen bekannter Rechtsextremisten mit Vertretern der AfD dürfe sich „in der Rückschau nicht als zweite ‚Wannseekonferenz‘ entpuppen“.