Berlin. NRW-Chef Wüst zeichnet die 102-Jährige Holocaust-Überlebende aus. Sie lässt den Rollator stehen und revanchiert sich mit einem Rat.
Am Ende kämpfen im Publikum selbst ausgebuffte Feierstunden-Routiniers mit den Tränen. Max Raabe tiriliert ein letztes „Irgendwo auf der Welt“ in den sakralen Hall des Berliner Bode-Museums. Und im marmornen Kuppelsaal hängt die düstere Vorahnung, dass es einen solch symbolstarken Termin wohl so schnell nicht mehr geben wird.
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat am Dienstag in der Hauptstadt die „Mevlüde-Genc-Medaille“ des Landes an Margot Friedländer verliehen. Mevlüde Genc verlor beim rechtsextremen Brandanschlag auf ihr Wohnhaus in Solingen 1993 zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte. Sie setzte sich trotzdem bis zu ihrem Tod im Herbst 2022 für ein friedliches Miteinander der Religionen und Kulturen ein. Sie stellte dem Hass der Neonazis Vergebung entgegen.
Die 102-jährige Margot Friedländer wiederum hat den Holocaust überlebt und ist nach Jahrzehnten in den USA mit 88 Jahren zurückgekehrt ins Land der Täter, in ihre Heimatstadt Berlin, um nachwachsenden Generationen vom Nazi-Terror zu berichten. Und zu warnen und zu mahnen.
Wie soll Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen funktionieren?
Wüsts Amtsvorgänger Armin Laschet hat die „Mevlüde-Genc-Medaille“ 2018 erfunden, um den Einsatz für Toleranz und Mitmenschlichkeit auszuzeichnen. Es war ihm ein inneres Bedürfnis. Laschet, der im Bode-Museum in der ersten Reihe sitzt, hatte schon am Grab der Genc-Kinder in der Türkei gestanden, als hierzulande der Anschlag von Solingen schon halb in Vergessenheit zu geraten drohte.
Wüst will sich an diesem Tag gar nicht mit fremden Federn schmücken. „Ich glaube, es ist Deine ganz persönliche Idee gewesen“, lobt er den Preisstifter Laschet. Wüst gelingt dafür mit der Verleihung der Genc-Medaille ausgerechnet an Margot Friedländer eine stimmige Verknüpfung der verschiedenen Zeitebenen.
Der Holocaust, die rechtsextremistischen Anschläge der 90er Jahre, der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, die „Potsdamer Konferenz“ der AfD mit Deportationsfantasien für Menschen mit Migrationshintergrund, die jüngsten Attacken gegen Politiker, nun auch noch der Islamisten-Mord an einem Polizisten in Mannheim. Alles wurzelt in ideologischem Wahn und Unmenschlichkeit.
Margot Friedländer redet den Politikern ins Gewissen
„Wir brauchen kraftvolle Stimmen der Versöhnung heute mehr denn je“, sagt Wüst. „Liebe Margot Friedländer, Sie haben persönlich erlebt, was aus Intoleranz und Hass erwachsen kann: Verfolgung, Terror, millionenfacher Mord.“ Den Ministerpräsidenten treibt erkennbar auch die Frage um, wie sich Erinnerungskultur in diesem Land verändern wird, wenn keine Zeitzeugen mehr leben werden.
Man werde virtuelle Begegnungen organisieren müssen, um die Mahnung an nachfolgende Generationen wachzuhalten. „Wir wollen als Landesregierung gerne mit Ihnen gemeinsam die Künstliche Intelligenz nutzen für eine Erinnerungskultur in einer Zukunft, die ohne Zeitzeugen wird auskommen müssen“, sagt Wüst zu Friedländer.
Das klingt nach Abschied, trotzdem wird es nie taktlos. Als Wüst der 102-jährigen Preisträgerin auf die Bühne hilft und sie sich zur Medaillen-Übergabe behutsam mit ihr in zwei Sessel fallen lassen, überspielt das der drahtige Ministerpräsident gedankenschnell: „Wir machen das heute mal im Sitzen, das ist leichter für mich.“
Friedländer hat den Rollator in einer Ecke des Saals geparkt und hält in bewundernswerter Präsenz eine Dankesrede. „Leider habe ich Mevlüde Genc nicht kennengelernt. Trotzdem wusste ich, wer sie war. Sie hatte das gleiche Ziel wie ich: Versöhnung“, beginnt sie. Sie greift Wüsts Sorge um die künftige Aufklärungsarbeit ohne Zeitzeugen selbstverständlich auf: „Wie lange kann ich es noch tun? Ich wünschte, sehr lange.“ Im November wird sie 103.
Friedländer appelliert: „Bitte, seid Menschen“
Schließlich immunisiert Friedländer noch die zahlreich aus Düsseldorf angereisten Politiker gegen jede populistische Versuchung, mögen auch Umfragen und Machtpragmatismus eines Tages doch mal verlockend sein. „Glaubt mir, ich denke, dass in jedem Menschen etwas Gutes ist. Nimm das Gute raus, es ist so wichtig. Seid Menschen“, ruft die alte Dame ins Mikrofon. „Glaubt mir, es ist so wichtig für Euch, für Eure Zukunft, für das Leben Eurer Nachkommen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Wir sind alle Menschen, wir sind alle gleich, wir kommen alle auf dieselbe Art auf die Welt.“ Mit Nachdruck appelliert sie: „Bitte, seid Menschen! Es ist so wichtig für die Demokratie, für die Menschheit.“
Minutenlanger Applaus. Gedankenschnell ruft Wüst mit kleinen Handbewegungen einen jungen Mann im hellblauen Anzug und eine junge Frau mit schwarzem Kopftuch zu sich und Friedländer auf die Bühne. Es sind Can Genc und Özlem Genc-Evran, zwei Enkel von Mevlüde Genc. Sie nehmen Friedländer in die Mitte und fassen sich an den Händen. Wüst hält sich im Hintergrund, blinzelt mit geröteten Augen. Schaut man genau hin, ist zu erkennen, wie er den Genc-Enkeln seine langen Arme um die Schultern legt.