Berlin. Vor einem Jahr stieg Deutschland aus der Atomkraft aus. Die Strompreise für Verbraucher sanken, doch bei Firmen wächst Unsicherheit.
Die Ära der Atomenergie ist in Deutschland vorbei. Wie es ein Jahr nach dem Aus der letzten Meiler um Versorgungssicherheit und Strompreise bestellt ist und warum die Debatte um Atomkraft trotzdem weitergeht. Ein Überblick.
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Der Jahrestag
Vor einem Jahr, am 15. April 2023, ging in Deutschland die Ära der Atomenergie zu Ende. Konkret stellten an dem Tag die letzten drei verbliebenen Atommeiler Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland die Stromproduktion ein. Damit war auch das Kapitel Atomkraft auf deutschem Gebiet beendet. 1960 war als erstes kommerzielles Kernkraftwerk ein Meiler im bayrischen Kahl in Betrieb gegangen.
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Anfangs euphorisch als saubere und sichere Energiequelle gefeiert, drehte sich ab den 1970er-Jahren die Stimmung: Mit der Anti-Atomkraftbewegung bestimmten verstärkt Risiken der Kernenergie öffentliche Debatten. 2011 leitete dann die Reaktorkatastrophe in Fukushima den endgültigen deutschen Ausstieg ein. Auf den letzten Metern war der Betrieb der Kernkraftwerke aber doch noch verlängert worden. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und einer Debatte um die Sicherheit der Energieversorgung in Deutschland entschied die Ampel, das Atom-Aus um dreieinhalb Monate nach hinten zu verschieben.
Die Strompreise
Seit dem Atomausstieg vor einem Jahr sind die durchschnittlichen Strompreise um 17 Prozent gesunken. Zahlte eine Familie mit einem Stromverbrauch von 4.000 Kilowattstunden im April 2023 noch 1.703 Euro, sind es aktuell 1.412 Euro für die gleiche Menge Strom, hat das Vergleichsportal Verivox berechnet.
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„Haupttreiber der sinkenden Preise sind die stark gesunkenen Strombörsenpreise. Befürchtungen, der Atomausstieg könne das Preisniveau für Haushaltskunden deutlich erhöhen, haben sich also nicht bewahrheitet“, sagt Thorsten Storck, Energieexperte bei Verivox. Ob und wie sehr eine Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke die Großhandelspreise noch stärker gesenkt hätte, lässt sich kaum abschätzen.
Allerdings: Auch Deutschlands langsames Schlittern in eine Wirtschaftskrise kann ein Faktor für die gesunkenen Preise sein. Vor allem die Stromnachfrage der produzierenden Industrie ging zuletzt zurück. „Nach einem Jahr ohne Kernkraft geht es Deutschland erwartungsgemäß schlecht, denn unsere Kernkraftwerke waren die preiswerteste Energiequelle in unserem Energiemix“, sagte Lisa Raß, Vorstandsmitglied des Pro-Kernkraft-Vereins Nuklearia dieser Redaktion. Die gesunkene Nachfrage habe die Strompreise zwar nun wieder etwas fallen lassen. Sterbende Industrien seien aber kein Grund zum Feiern, erklärte Raß.
Die deutsche Wirtschaft sieht sich mit Blick auf die Energieversorgung und auch die Kosten im Wettbewerbsnachteil. „Deutsche Unternehmen brauchen international wettbewerbsfähige Energiepreise und sind auf eine sichere Versorgung angewiesen. Die deutschen Strompreise an der Börse liegen aber immer noch doppelt so hoch wie 2019 und inklusive Steuern, Netzentgelte und Umlagen sind die Kosten zum Teil viermal so hoch wie in anderen Ländern“, sagte der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, dieser Redaktion.
Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hält dagegen: „Ein Jahr nach dem Atomausstieg lässt sich konstatieren: Alle Warnungen vor einem angeblichen Blackout und sprunghaften Anstiegen der Strompreise waren unbegründet und reine Panikmache. Es war erwartbar, dass auch ohne Atomstrom die Stromversorgung sicher ist und die Strompreise sinken. Denn nicht die restlichen drei Atomkraftwerke, die lediglich sechs Prozent des Stroms ausmachten, bestimmen den Strompreis, sondern die teuren Gaskraftwerke“, sagte Kemfert. Mit den gesunkenen Gaspreisen seien somit ihr zufolge auch die Strompreise nach unten gegangen.
Die Versorgungssicherheit
Laut DIHK-Präsident Peter Adrian gebe es erste Alarmzeichen, was die Versorgung mit Strom angehe. „Viele Unternehmen berichten uns von kleineren und größeren Stromausfällen“, sagte er. Ähnlicher Auffassung ist Clemens Fuest vom ifo Institut: „Der Atomausstieg hat die Versorgungssicherheit eindeutig verschlechtert. Die Verknappung des Energieangebots kann die Versorgungssicherheit logischerweise nicht verbessern“, erklärte er gegenüber unserer Redaktion.
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Dass es um Deutschlands Stromversorgung schlecht steht, ist auf dem Papier allerdings nicht nachweisbar. „Die Versorgungssicherheit in Deutschland war immer zu einhundert Prozent gewährleistet“, erklärt Energieexperte Bruno Burger, verantwortlich für die Datenbank Energy Charts des Fraunhofer-Instituts für solare Energiesysteme (ISE). Burger zufolge habe die maximale Last, also der Stromverbrauch plus Netzverluste, im ersten Jahr ohne Kernkraftwerke bei 74 Gigawatt gelegen. Dem gegenüber hätten 90 Gigawatt gesicherte Kraftwerksleistung plus zehn Gigawatt Pumpspeicher gestanden. Zudem gebe es bei der fossilen Stromproduktion mit Braunkohle, Steinkohle, Öl oder Gas „noch sehr viel Leistungsreserve“, so Burger.
Kein Faktor für die Versorgungssicherheit waren Stromimporte: Zwar hat Deutschland 2023 erstmals seit 2006 wieder mehr Strom importiert als exportiert. In der Summe wurden allerdings nur zwei Prozent des Bruttostromverbrauchs mit Einfuhren gedeckt. Alternativ hätte man auch Kraftwerke im Inland hochfahren können, was jedoch vermutlich mehr CO₂-Emissionen und höhere Stromrechnungen für die deutschen Stromkunden bedeutet hätte.
Die Energiewende
Im ersten Jahr ohne Atomstrom ist der Anteil der Erneuerbaren an der Nettostromerzeugung ISE-Daten zufolge auf 63,6 Prozent gestiegen (April 2022 bis April 2023: 49,7 Prozent). Gleichzeitig ist die fossile Erzeugung zurückgedrängt worden. Der Atomstrom wurde also nicht durch Kohlestrom ersetzt, sondern durch erneuerbare Energien. „Wind, Sonne & Co. haben erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik mehr als die Hälfte der Stromproduktion übernommen und sind so zum Rückgrat der deutschen Energieversorgung geworden“, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Julia Verlinden, unserer Redaktion.
Beim Ausbau gibt es jedoch Licht und Schatten: Während der Zubau von Solaranlagen kräftig Fahrt aufgenommen hat, hinkt die Windenergie hinterher – sowohl an Land, als auch auf dem Wasser. Das liege vor allem an Entscheidungen der zwei vorherigen Bundesregierungen, kritisierte Experte Burger. Beispielhaft verweist er auf die Strompreisbremse, die ab 2013 den Ausbau der Solarenergie abgewürgt hätte. Auch der Netzausbau sei verschlafen worden.
Die Debatte um die Zukunft der Atomkraft
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat den Ausstieg aus der Atomkraft vor einem Jahr als historischen Fehler bezeichnet: „Ein Jahr nach Habecks Kernkraft-Aus zeigt sich: Alle Warnungen von Experten sind eingetreten“, sagte Linnemann dieser Redaktion. Deutschland sei abhängiger von Stromimporten geworden, die Wirtschaft ächze unter hohen Energiepreisen - und kein anderes Land der Welt folge dem ideologischen Kurs dieser Bundesregierung. Stattdessen würden überall neue Kernkraftwerke gebaut. Linnemann betonte, dass die Union diesen nach seinen Worten „historischen Fehler“ korrigieren wolle.
Ähnlich sieht es auch ifo-Chef Fuest: Es sei angesichts der Wetterabhängigkeit der erneuerbaren Energien und der Klimafreundlichkeit der Kernenergie nicht überraschend, dass andere Länder auch auf Kernenergie setzten.