Berlin. Sam hat mindestens 27 Geschwister, sein Vater zeugte womöglich 300 Kinder. Über eine Kindheit voller Lügen – und endlose Wut.

Tom Feist sitzt in seiner WG in Göttingen auf dem Sofa und muss kurz überlegen, bevor er sich an die Zahl erinnert: Wohl 150-mal habe er sich einen Becher am Empfang seiner Samenbank geholt, sei in einen Raum gegangen, habe den Stuhl desinfiziert – und sich dann einen Porno auf einer der gängigen Plattformen ausgewählt, um zu masturbieren.

Vor knapp vier Jahren ließ sich der 26-Jährige in der Samenbank in Hamburg registrieren. Die Idee sei schon lange in seinem Kopf gewesen, sagt er. Er betrachte die Samenspende als eine Art Leistung, die er der Gesellschaft zurückgebe: „Andere Menschen haben nicht das Privileg, so gesund zu sein wie ich – und dennoch einen Kinderwunsch. Den möchte ich den unfreiwillig kinderlosen Paaren erfüllen.“ Und was ist mit dem Geld? Natürlich spiele auch das eine nicht ganz unwichtige Rolle, sagt er.

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Geht es um Samenspenden, kochen die Emotionen bei Betroffenen hoch. Hoffnung, Liebe, Schmerz, Glück und Wut liegen bei dem Thema nah beieinander. Aber auch juristisch wie gesellschaftlich ist dieser Weg, einen Kinderwunsch zu erfüllen, umstritten. Was bringt einen Mann dazu, seine Gene massenhaft weiterzugeben? Wie fühlt es sich für Spenderkinder an, Dutzende Halbgeschwister zu haben – ohne zu wissen, wer sie sind? Und was löst diese Art der medizinischen Reproduktion in der menschlichen Psyche aus?

Für Samenspenden gibt es rechtlich keine Obergrenze

Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kommen in Deutschland jährlich knapp 1000 Kinder nach einer Samenspende auf die Welt. Erlaubt ist sie seit den 1970er-Jahren, während die Eizellenspende – anders als in einigen anderen europäischen Ländern – wegen gesundheitlicher Risiken für Spenderin und Empfängerin sowie der Gefahr einer gespaltenen Mutterschaft hierzulande verboten ist. Das Ministerium lässt eine Legalisierung dennoch seit 2023 prüfen.

Im Zentrum für Reproduktionsmedizin in Münster (Nordrhein-Westfalen) lagern in einem Kühldepot bei circa minus 170 Grad Celsius im Rahmen einer Kryokonservierung Samenspenden.
Im Zentrum für Reproduktionsmedizin in Münster (Nordrhein-Westfalen) lagern in einem Kühldepot bei circa minus 170 Grad Celsius im Rahmen einer Kryokonservierung Samenspenden. © picture alliance / dpa | Friso Gentsch

Pro Spende erhalten Männer in Deutschland 80 bis 150 Euro, eine Aufwandsentschädigung. Tom Feist hat pro Monat bis zu 900 Euro durch seine Samenspenden verdient. „Das hat mich eine Zeit lang gut über Wasser gehalten.“ Bevor es Geld gibt, wird die Qualität des Spermas getestet, die Blutwerte müssen stimmen und es dürfen keine Geschlechtskrankheiten vorliegen. Zudem ist eine Spenderkarriere zumindest lokal begrenzt. Feist darf keine weiteren Samen mehr spenden. Jedenfalls nicht bei seiner Samenbank in Hamburg. Denn die Anzahl der Kinder eines Samenspenders soll auf 15 an einem Ort begrenzt sein.

Rechtlich gesehen gebe es zwar keine Obergrenze dafür, wie oft ein Mann seinen Samen abgeben darf, erklärt Maike Pia Pfeffer, Fachanwältin für Familienrecht in Mönchengladbach. Die Samenbanken legten die Grenzen aber in der Regel selbst fest – nach einer unverbindlichen Richtlinie des Arbeitskreises „Donogene Insemination“, der Begriff steht für „Behandlung mit Samenspende“. Der Arbeitskreis besteht aus Ärzten, Juristen, Psychologen und weiteren Wissenschaftlern.

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Seit 2018 werden die Daten von Spendern zusätzlich gespeichert. Kinder haben seitdem ab dem 16. Lebensjahr das Recht darauf, mithilfe des Samenspender-Registers zu erfahren, wer ihr biologischer Vater ist. Im Umkehrschluss sind Samenbanken zur Auskunft verpflichtet. Noch vor wenigen Jahren war dies anders: Der Samenspender konnte anonym bleiben. Für Spenderkinder bedeutete die Suche nach dem biologischen Vater eine große Herausforderung, die oft genug im Sande verlief.

Spenderkind: „Es hat mich nicht in tiefes Unglück gestürzt“

Auch Sam wusste lange nicht, wer sein biologischer Vater ist. „Ich bin Spenderkind und habe momentan 27 Halbgeschwister – glaube ich. Die Zahl ändert sich oft“, erzählt der 29-Jährige. Sam wurde lange vor Einführung des Samenspender-Registers geboren. Er ist in der Nähe von Frankfurt am Main aufgewachsen, lebt allerdings seit sechs Jahren in Südafrika. Dort arbeitet er als Biologe an der Universität. Sein Spezialgebiet: Bestäubung.

Mit 13 Jahren erfuhr er, dass er ein Spenderkind ist. Er habe damals unter Depressionen gelitten, sagt Sam. „Ich habe versucht, mich selbst umzubringen, und wurde in eine psychiatrische Klinik gebracht.“ Sein Arzt habe wissen wollen, ob es in der Familie schon mal einen ähnlichen Fall gab. Doch väterlicherseits konnte Sams Mutter die Frage nicht beantworten. Sie habe die Zeugungsart vor ihrem Sohn verbergen wollen. „Das ist doch mein Geheimnis und nicht deins“, habe sie Sam gesagt.

Doch der Arzt riet ihr, dem Sohn ihr Geheimnis zu offenbaren. Als der Jugendliche aus der psychiatrischen Klinik wieder nach Hause kam, platzen gleich mehrere Lebenslügen. Die Mutter gab zu, dass der offizielle Vater nicht an Krebs gestorben ist, sondern sich das Leben genommen hat. „Und dann sagte sie mir auch noch, dass er gar nicht mein leiblicher Vater ist“, erinnert sich Sam. Geständnisse, die wohl viele – gerade junge Menschen – aus der Bahn geworfen hätten. Doch ihn nicht. „Es war interessant und spannend, aber es hat mich nicht in tiefes Unglück gestürzt.“

Psychoanalytekerin rät Eltern, die Kinder früh aufzuklären

Ehrlichkeit ist entscheidend für Spenderkinder, sagt Rita Marx. Sie ist Psychoanalytikerin und hat ein wissenschaftliches Buch über Chancen und Probleme der Reproduktionsmedizin herausgebracht. Sie rät Eltern dringend dazu, Spenderkinder schon früh über ihre Zeugungsart aufzuklären. „Sagt die Wahrheit – mutet den Kindern die Realität zu“, empfiehlt Marx. „Aber lasst ihnen gleichzeitig ihre Fantasien und Wünsche.“

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    Das Gefühl, nicht so richtig zur eigenen Familie zu gehören, komme bei vielen Betroffenen ohnehin irgendwann hoch. Auch Sam ging es so. „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht so richtig in meine Familie passe, dass ich der komische Vogel bin.“ Auch 16 Jahre später denkt er: „Ich habe das Gefühl, ich wurde geschaffen, mit dem Wissen, dass mir immer etwas fehlen wird. Das war allen Beteiligten egal – und das ist unfair.“

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    Erst im Alter von 25 Jahren hat er seinen Vater ausfindig machen können – über den Verein „Spenderkinder“. Nach einem kurzen E-Mail-Wechsel und mehreren Telefonaten zwischen Vater und Sohn folgte ein erstes persönliches Treffen. „Das war eine wunderschöne Begegnung“, erinnert sich Sam. Beide hätten sofort viele Gemeinsamkeiten entdeckt – zum Beispiel, dass sie gern Vögel beobachten. Ein Hobby, für das Sam in seiner Familie, in der er aufgewachsen ist, stets als seltsam betrachtet wurde.

    Sam: „Ich wäre lieber gar nicht geboren als so“

    Ein Happy End gab es trotzdem nicht. Vor allem die Frage nach seinen Halbgeschwistern beschäftigt Sam weiter. Große Wut habe er auf den Arzt, der keinerlei Informationen darüber herausgebe, wie viele Samenspenden desselben Mannes er an Frauen vermittelt habe. „Wir sind schon jetzt die größte Gruppe Halbgeschwister beim ‚Spenderkinder‘-Verein. Wir schätzen, dass wir um die 300 sein könnten.“ Psychologin Marx hält das für sehr problematisch. „Durch die unnatürlich große Zahl an Halbgeschwistern kann ein Kind ein Stück weit seine Identität verlieren“, sagt sie.

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    Die möglichen psychischen Konsequenzen für die Spenderkinder würden tatsächlich oft außer Acht gelassen, sagt Psychologin Marx. Dennoch könne die Samenspende eine Hilfe sein, denn „für viele Menschen ist der Kinderwunsch ein existentielles Bedürfnis“. Zugleich gebe es keinen Anspruch auf ein Kind. „Manchmal muss man betrauern, dass es so ist, wie es ist.“

    Kinder anonymer Samenspender haben das Recht, den Namen ihres leiblichen Vaters zu erfahren.
    Kinder anonymer Samenspender haben das Recht, den Namen ihres leiblichen Vaters zu erfahren. © picture alliance / dpa | Friso Gentsch

    Sam leidet weiterhin unter der Tatsache, ein Spenderkind zu sein. „Ich liebe mein Leben, ich bin ein glücklicher Mensch“, stellt er zwar klar. „Aber ich wäre lieber gar nicht geboren als so.“ Tom Feist stellt sich die Frage, wie es wohl sein wird, wenn sich in einigen Jahren mehrere Kinder bei ihm melden. „Werde ich Vatergefühle haben? Was macht das emotional mit mir?“, fragt er sich immer wieder. Und dann gibt er zu: „Es gehört auch ein bisschen Größenwahn dazu, so viele Kinder in die Welt setzen zu wollen.“

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