Berlin. Der Virologe Klaus Überla spricht über unterschätzte Viren, eine neue Impfung für Säuglinge – und er macht einen radikalen Vorschlag.
Seit der Pandemie kennt jeder die Ständige Impfkommission. Jetzt ist die Stiko neu besetzt. Der Virologe Klaus Überla von der Universität Erlangen-Nürnberg ist Vorsitzender der Kommission. Im Interview sagt er, was Eltern jetzt über Viren und neue Impfungen wissen müssen.
Von welchem Virus geht im Moment die größte Gefahr aus?
Klaus Überla: Die größte Sorge bereiten mir Influenza-Viren, aktuell vor allem das Vogelgrippevirus und das Schweinegrippe-Virus. Sie sind in der Tierwelt sehr weit verbreitet, können schlagartig ihre Eigenschaften ändern und breiten sich sehr effizient von Mensch zu Mensch aus, wenn sie sich einmal an den Menschen angepasst haben. Influenzaviren können leicht neue Pandemien auslösen.
Was lässt sich dagegen tun?
Wir brauchen dringend Impfstoffe, die uns nicht nur vor der Erkrankung schützen, sondern auch die Übertragung von Atemwegsviren verringern. Dazu muss man die Viren schon in den Schleimhäuten im Mundraum bekämpfen – etwa mit einem lokal wirkenden Impfspray. Die Forschung ist auf einem guten Weg, aber bis zur Zulassung wird es noch einige Jahre dauern.
Das Corona-Virus ist immer noch da, bleibt aber unterm Radar. Fürchten Sie, dass es noch mal gefährlich wird?
Wir können nicht ausschließen, dass wieder ganz neue Varianten entstehen. Die hohe Immunität in der Bevölkerung gegen die aktuellen Varianten bietet zum Glück aber auch im Fall einer neuen Variante einen gewissen Schutz gegen schwere Verläufe. Wir müssen das Virus aber weiter gut beobachten und wenn nötig die Impfstoffe schnell anpassen.
Die Grippe dagegen wird spätestens im Herbst wieder zuschlagen. Kinderärzte fordern jetzt, dass die Stiko die Grippeschutzempfehlung auf alle Kinder ab zwei Jahren gibt. Kommt das?
Wir diskutieren das, es gibt aber auch Argumente dagegen: Eine solche Empfehlung hieße, dass jedes Kind jedes Jahr gegen Influenza geimpft werden müsste. Eine Sorge ist, dass man damit die Impfbereitschaft überfordern könnte und die Akzeptanz anderer Impfungen dadurch abnimmt. Bevor man gesunde Kinder regelmäßig gegen Grippe impft, müsste auch erstmal erwiesen sein, dass dadurch die Übertragung des Virus verringert würde. Das ist bislang nicht klar.
Was tut sich beim RS-Virus? Es gibt ja jetzt einen Antikörper-Impfstoff, der Säuglinge im ersten Lebensjahr schützen kann. Wird die Stiko hier eine Empfehlung abgeben?
Wir werden noch vor der Sommerpause einen Beschluss dazu fassen. Damit sollte es noch vor der Infektionssaison im Herbst eine neue Stiko-Empfehlung zum Schutz von Säuglingen vor der RSV-Erkrankung geben.
Die Stiko empfiehlt Jugendlichen eine Impfung gegen humane Papillomaviren (HPV), die Krebs auslösen können. Das Ergebnis ist ernüchternd: In Deutschland ist gerade mal die Hälfte der 15-jährigen Mädchen geimpft, bei den Jungen sind es noch weniger. Was muss passieren, damit die Quote steigt?
Die Verträglichkeit der Impfstoffe gegen HPV ist hervorragend, Studien zeigen, dass die Impfung hoch effektiv ist. Es gibt also überhaupt keinen Grund, diese Impfung nicht zu machen. Um die Impfrate zu steigern, sollten wir deswegen neue Wege gehen: In anderen Ländern sieht man, dass man die besten Impfraten im Rahmen von Schulimpfungen erzielt.
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Man müsste auch in Deutschland Impfungen in der Schule anbieten. Das wäre eine gute Möglichkeit, die Rate zu steigern und damit langfristig Leben zu retten. Grundsätzlich wäre es überdies sinnvoll, in den Schulen mehr über die Entstehung von Tumoren und über die Wirksamkeit von Impfungen zu informieren. Die HPV-Infektion als weit verbreitete Geschlechtskrankheit kann dabei als Einstieg dienen.
Die Zecken sind auf dem Vormarsch, sie können lebensgefährliche Erreger übertragen. Sollte sich jeder gegen die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) impfen?
Wenn ich in Norddeutschland lebe und im Winter zum Skilaufen in die Alpen fahre, ist mein Risiko gering. Wenn ich dagegen im Sommer zum Wandern in die Alpen fahre, sollte ich mich unbedingt gegen FSME impfen. Jeder sollte sein Risiko abklären und dann selbst entscheiden. Eine generelle Impfempfehlung für ganz Deutschland ist aus meiner Sicht aktuell nicht nötig.
Haben sich die Einstellungen und die Bereitschaft zum Impfen durch die Pandemie verändert?
Die Pandemie hat die Gegensätze zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern verstärkt. Die Bevölkerung ist heute stärker polarisiert.
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Welche neuen Impfstoffe stehen quasi vor der Tür? Wie weit sind die mRNA-Impfstoffe gegen Krebs?
Die Forschung arbeitet mit Hochdruck an Impfungen, die in der Krebstherapie eingesetzt werden können. Es gibt auch bereits erste klinische Studien zu mRNA-Impfstoffen, die gegen Tumore wirken können. Bis diese Impfstoffe aber auf den Markt kommen, wird es noch lange dauern.
Was wünschen Sie sich als Stiko-Vorsitzender von der Gesundheitspolitik?
Ich wünsche mir, dass wir auch weiterhin unabhängig von der Politik Impfempfehlungen entwickeln können.
Sehen Sie die Unabhängigkeit der Stiko in Gefahr?
Aktuell nicht. Für die Akzeptanz der Impfempfehlungen ist es aber wichtig, dass das auch in den kommenden Jahren so bleibt.
In der Pandemie hat ganz Deutschland über die Stiko und ihre Impfempfehlungen diskutiert. Viele fanden die Stiko zu zögerlich. Was ändert sich durch die Neubesetzung der Stiko? Ändert sich das mit Ihnen?
Ich halte eine möglichst rasche Beschlussfassung für sinnvoll. Dazu muss die Stiko aber auch entsprechend ausgestattet sein. Aktuell können wir nicht alle anstehenden Empfehlungen zeitnah behandeln. Ohne eine bessere personelle Ausstattung der Geschäftsstelle und des der Stiko zuarbeitenden Robert-Koch-Institutes wird es weiter Verzögerungen geben.
Ihr Vorgänger Thomas Mertens stand in der Pandemie oft unter Beschuss. Sind Sie vorbereitet?
Mir sind die Risiken dieses Amtes bewusst. Ich hoffe aber, dass wir nicht so bald wieder in einer solchen Extremsituation sein werden.
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