Berlin. Deutschland soll „kriegstüchtig“ werden. Dafür denkt Pistorius über die Rückkehr zur Wehrpflicht nach. Und er hat ein klares Vorbild.
Der Bundesverteidigungsminister hat eine klare Vision für die Zukunft der Bundeswehr. „Unser Land braucht Streitkräfte, die auf die gegenwärtige Situation reagieren können und ausreichend vorbereitet und flexibel sind, sich an neue Herausforderungen anzupassen“, sagt der Minister. Eine Neuausrichtung sei erforderlich, fügt er hinzu und folgert daraus: „Eine Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicherheitspolitisch nicht mehr begründen, und sie ist zweitens militärisch nicht mehr erforderlich.“
Die Sätze stammen aus einer Zeit, in der die Welt und die politische Diskussion über die Bundeswehr ganz andere waren. Gesprochen hat sie der CDU-Politiker Thomas de Maizière am 24. März 2011 im Bundestag. Zum Abschluss der Parlamentsdebatte stimmten die Abgeordneten mehrheitlich dafür, die Wehrpflicht für Männer mit deutscher Staatsbürgerschaft auszusetzen. Nach 55 Jahren endete damit für die Bundeswehr und für die deutsche Gesellschaft ein prägendes Kapitel.
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„Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein Fehler“, bedauert der aktuelle Verteidigungsminister die damalige Entscheidung. Angesichts der Bedrohung durch Russland fordert Boris Pistorius von Deutschland, „kriegstüchtig“ zu werden. Der SPD-Politiker denkt daher auch darüber nach, die Wehrpflicht wiederzubeleben. Eine Rolle spielen dabei auch die Personalprobleme der Truppe: Bis zum Jahr 2031 soll sie 203.000 Soldatinnen und Soldaten stark sein. Davon ist die Bundeswehr mit aktuell 182.000 Uniformierten weit entfernt. Zum Kummer von Pistorius gelingt es nicht, deutlich mehr junge Menschen anzuwerben.
Verteidigungsminister lobt Schwedens Wehrpflicht-Modell
Pistorius lässt in seinem Ministerium verschiedene Modelle für eine Dienstpflicht prüfen. Im April könnten die Optionen vorliegen. Sicher ist: Eine Rückkehr zur alten Wehrpflicht wird es nicht geben – allein aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken, Stichwort Wehrgerechtigkeit. Die herkömmliche Wehrpflicht galt zwar grundsätzlich für alle, der Bedarf der Bundeswehr war jedoch zuletzt deutlich geringer, sodass nur ein Teil der jungen Männer den Dienst leistete. Das war rechtlich problematisch.
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Zeitenwende hin oder her, es hat sich bis heute nichts daran geändert, dass die Bundeswehr eher gezielt Verstärkung benötigt als ganze Jahrgänge für kurze Zeit auszubilden. Eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hätte somit gute Chancen, ein solches Modell zu kippen. Es würde die Truppe zudem Milliarden kosten, wieder die notwendigen Strukturen aufzubauen und die Ausrüstung für zahlreiche Wehrpflichtige einzukaufen. „Niemand möchte die alte Wehrpflicht reaktivieren“, sagt die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) daher dieser Redaktion. „Bei der Debatte geht es um neue Modelle und Konzepte.“
Auf der Suche danach ist Pistorius im Ausland fündig geworden. „Ich habe ein gewisses Faible für das schwedische Modell“, sagte der Minister in dieser Woche kurz vor einem Besuch in dem skandinavischen Land. Schweden setzte seine Wehrpflicht 2010 aus, führte sie aber sieben Jahre später wieder ein.
Für Rückkehr zur Wehrpflicht fehlen Kasernen und Ausbilder
Seitdem müssen jedes Jahr alle 18-Jährigen – Männer wie Frauen – einen Fragebogen der Musterungsbehörde ausfüllen und Auskunft über ihre Fähigkeiten und ihre Motivation zum Wehrdienst geben. Eingezogen werden nur etwa fünf bis zehn Prozent eines Jahrgangs. Zuletzt waren erstmals auch junge Menschen darunter, die sich nicht freiwillig zum Dienst bereit erklärt hatten. Je nach Verwendung dauert die Dienstzeit neun bis 15 Monate.
„Eins zu Eins“ ließe sich das nicht übertragen, räumt Pistorius ein. Zehn Prozent eines Jahrgangs entsprechen in Deutschland allein 40.000 jungen Männern. Dafür gebe es derzeit weder die Kasernen noch die Ausbilder. Ein realistischer Bedarf wird zudem eher auf 4000 Wehrdienstleistende geschätzt. Dem Minister gefällt aber, dass erst einmal ein ganzer Jahrgang erfasst wird und somit in Kontakt mit der Bundeswehr kommt.
Eine allgemeine Dienstpflicht ist eine weitere Idee, für die sich nicht nur Pistorius erwärmen kann. Eine neue Wehrpflicht solle in einen Gesellschaftsdienst eingebettet sein, „der viele Bereiche – neben Bundeswehr auch Soziales, Kultur, Umwelt – abdeckt“, fordert die Wehrbeauftragte Högl. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wirbt ebenfalls für eine soziale Pflichtzeit, die auch, aber nicht nur bei der Bundeswehr erfüllt werden kann. Die CDU schlägt ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr vor, von dem auch die Streitkräfte profitieren sollen.
Alternative zur Wehrpflicht könnte allgemeine Dienstpflicht sein
Der Reservistenverband der Bundeswehr unterstützt den Vorstoß: „Alle jungen Menschen sollten zu einem Pflichtdienst von mindestens einem Jahr herangezogen werden und sich dann zwischen den verschiedenen Organisationen entscheiden“, sagte Verbandspräsident Patrick Sensburg dieser Redaktion. „In Betracht kommen dabei alle Organisationen von der Bundeswehr über den Zivilschutz bis zu den Hilfs- und Rettungskräften, die im Falle der Landesverteidigung die Verteidigungsbereitschaft unseres Landes aufrechterhalten.“ Für eine starke Gesamtverteidigung brauche es einen Dienst, „der alle Ebenen der zivilen und militärischen Verteidigung einbezieht“.
Das Technische Hilfswerk (THW) leistet Zivil- und Katastrophenschutz, die rund 88.000 Ehrenamtlichen rücken aus bei Bränden und Hochwassern, bei Unfällen, sie sichern die Stromversorgung, Brücken oder Wasserleitungen. Eine Dienstpflicht sieht THW-Präsidentin Sabine Lackner als hilfreich, ihre Organisation sei aber nicht darauf angewiesen. Nach Abschaffung der Wehrpflicht sei die Zahl der ehrenamtlichen Helfer stabil geblieben und zuletzt sogar gestiegen, sagt Lackner dieser Redaktion. „Nichtsdestotrotz stehen wir ihr offen gegenüber, da sie uns die Möglichkeit bietet, noch weiter zu wachsen.“
Pistorius braucht politische Mehrheiten für Grundgesetzänderung
Die Debatte um eine neue Wehrpflicht wühlt die Gesellschaft auf. „Das Thema berührt ganz grundsätzliche Fragen, die quer durch politische Parteien und unsere Gesellschaft unterschiedlich beantwortet werden“, sagt Högl. Die Diskussion müsse „sorgfältig, umfassend und ergebnisoffen“ geführt werden. Sicher ist: Kurzfristig werden weder die Bundeswehr noch andere Organisationen von einer wie auch immer gearteten Dienstpflicht profitieren. Pistorius weiß, dass er noch viele rechtliche wie politische Hürden überspringen muss.
Aller Voraussicht nach wird er eine Grundgesetzänderung brauchen – und die dazu erforderlichen politischen Mehrheiten. Schon in der Ampel-Koalition ist sein Vorstoß allerdings umstritten. FDP und Grüne stehen einer Wehrpflicht skeptisch gegenüber, in der SPD gibt es Befürworter und Gegner. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat Pistorius nicht nur wissen lassen, dass ihm der Begriff „kriegstüchtig“ zuwider ist. Auch die Debatte um eine Rückkehr zur Wehrpflicht missfällt Mützenich. Doch Pistorius lässt nicht locker: „Wir brauchen fähige und motivierte junge Frauen und Männer, um unsere Länder im Fall der Fälle verteidigen zu können.“
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