Berlin. Im Bundestag erzählt der Sportjournalist von seinem Vater, der den Holocaust knapp überlebte – und von seiner Kindheit im Täter-Land.
Viele Deutsche kennen ihn von diversen Fußball-Spielen, die er kommentierte – oder durch die improvisierte Moderation beim Champions-League-Halbfinale im Jahr 1998 in Madrid, für die er zusammen mit Günther Jauch den Bayrischen Fernsehpreis erhielt. Doch Marcel Reif ist an diesem Mittwoch nicht in seiner Funktion als Sportjournalist im Bundestag: Er ist hier, weil viele seiner Familienmitglieder während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden. Sein Vater Leon Reif überlebte nur knapp.
Am Mittwochmorgen gedenkt der Bundestag der Opfer der Nazis: Eine Erinnerung an den 27. Januar 1945, als Soldaten der Roten Armee Überlebende aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreien konnten. Neben Reif sprechen auch Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi im Plenum.
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„Nie wieder ist mitnichten ein Appell – und muss gelebte, unverrückbare Wirklichkeit sein“, beginnt Reif seine Rede. Im Fokus der diesjährigen Gedenkstunde steht die generationsübergreifende Aufarbeitung des Holocausts. Der im Jahr 1949 in Polen geborene Journalist spricht als Vertreter der zweiten Holocaust-Generation, als Sohn eines Überlebenden. Reifs Vater, ein polnischer Jude, ist den Nazis nur knapp entkommen. Er war im Zug auf dem Weg ins Konzentrationslager, wo wohl der sichere Tod auf ihn gewartet hätte. Der Industrielle Berthold Beitz konnte ihn aus dem Zug holen – und damit sein Leben retten.
Holocaust-Gedenken: „Nie wieder ist mitnichten ein Appell“
„Ohne Beitz würde ich heute nicht hier stehen“, sagt Reif. Als Anfang der 1950er Jahre in Polen antisemitische Strömungen stärker wurden, habe sein Vater beschlossen, mit der Familie wegzuziehen: Einmal sei genug. Nach kurzer Zeit in Israel zog Reif im Alter von acht Jahren nach Kaiserslautern. Nach Deutschland, dem Land der Täter, wo sich die grausame Vergangenheit seiner Familie abgespielt hatte. Doch Reif wusste davon lange nichts – er habe eine sorgenfreie und behütete Kindheit erleben dürfen. „Mein Vater sprach nicht, und ich fragte nicht“, erinnert er sich.
Vor der Wahrheit konnte er zwar nicht die Augen verschließen – er hatte keine Großeltern mehr, viele Familienmitglieder waren tot. Doch es war die Angst vor dem Ungewissen, die seine Neugier lähmte. „Ich hatte Angst. Angst, Unsagbares zu hören, Unerträgliches ertragen zu müssen. Bildes des Grauens mir vorzustellen, was man meinem großen, starken Vater angetan hatte“. Erst Jahre nach dem Tod von Leon Reif erzählte ihm seine Mutter von dem Leid – sie brach damit ein verabredetes Schweigegelöbnis mit ihrem Ehemann.
Rede im Bundestag: Marcel Reif spricht über seinen Vater
Vieles, was der Journalist nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Angriffs der Hamas auf Israel, an antisemitischen Äußerungen hören und erleben musste, entsetze ihn zutiefst: „Mein Vater muss sich im Grabe umgedreht haben“. Doch es gebe auch etwas, was ihn Hoffnung schenke Die deutschlandweiten Demonstrationen gegen Rechts und Tausende Menschen, die derzeit gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Diskriminierung und für Demokratie auf die Straße gehen.
Auch wenn sein Vater über die konkreten Gräueltaten schwieg – mit nur einem kurzen Satz habe er gegenüber seinem Sohn eigentlich alles ausgesprochen, was er wissen musste, erzählt Reif. Was seinem Vater wichtig gewesen sei, was ihn gerettet habe, als Essenz aus der Unmenschlichkeit, die er erlebt habe, seien nur drei Worte gewesen. Worte, bei welchen Außenministerin Annalena Baerbock die Tränen kommen. Worte, für die Reif seinem Vater Danke sagen und an die er sich stets erinnern möchte: „Sei ein Mensch“.
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