Hannover/Berlin. Eine Studie deckt Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche auf – eine Institution, die sich für die „bessere Kirche“ hielt.
Die Stimme von Katharina Kracht zittert. Ihre Worte wanken – so wie auch das, was in der nächsten Stunde hier im Konferenzraum an der Universität Hannover vorgestellt wird, die Evangelische Kirche in Deutschland ins Wanken bringt. „Es ist genug. Es ist schon lange genug“, sagt Kracht.
Sie wurde missbraucht, als sie jung war. Der Täter: ihr Pastor im Kirchenkreis Hittfeld in Niedersachsen. Es fing an, als Kracht noch ein Kind war, 13 Jahre alt, und gerade neu in der Konfirmandengruppe. Es begann mit Tänzen mit Umarmungen, gegenseitigen Massagen, Gute-Nacht-Küssen auf der gemeinsamen Jugendfahrt. Der Pfarrer manipuliert sie, missbraucht seine Macht. Dann, auf einer Fahrt, rutschten die Hände des Geistlichen ihren Oberschenkel hoch. Drei Jahre nach den ersten Übergriffen verübt der Pfarrer schwere Gewalt an Katharina Kracht. Weitere Mädchen sind betroffen.
Wie viele Menschen in der evangelischen Kirche missbraucht wurden, weiß niemand genau. Es gibt in der Kirche keine Dokumentation der Fälle, es gab keine Aufarbeitung. 2010 wurden durch journalistische Recherchen die ersten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in Deutschland öffentlich. Seit 2018 drängt das Thema auch an die EKD. Jetzt, erstmals, gibt eine Studie tiefe Einblicke in ein System des Machtmissbrauchs und der Gewalt in der evangelischen Kirche, in Kindergärten, Jugendgruppen, Pfarrhäusern und Diakonie-Treffs.
Der Kommentar zur Studie: Die Kirchen waren ein Schutzraum – für die Täter
Forschende, darunter Sozialwissenschaftler, Historiker, Forensiker, mehrerer Universitäten arbeiten mehrere Jahre an dieser Dokumentation, fast 900 Seiten ist der Bericht lang. Sie zählen 2225 Betroffene. Und 1259 Täter, fast ausnahmslos Männer. Der Leiter der Studie ist Martin Wazlawik. Er sagt: „Das ist nur die Spitze der Spitze des Eisbergs.“
Die jungen Menschen, die Gewalt erfahren haben, sind im Schnitt elf Jahre alt
Das Forscherteam schätzt – mit aller Vorsicht – dass bisher rund 10.000 Menschen in den evangelischen Kirchengemeinden und ihren Einrichtungen missbraucht worden sein könnten. Es dürften mehr als 3000 Täter sein. Bisher hatten sich bei der EKD offiziell gerade einmal 858 Betroffene gemeldet.
Die jungen Menschen, die Gewalt erfahren haben, sind im Schnitt elf Jahre alt. Das bedeutet: Viele Opfer der sexualisierten Gewalt sind Kinder. Die Täter: Jugendbetreuer, Erzieher, Pfarrer. Im Durchschnitt gut 40 Jahre alt, zu zwei Drittel verheiratet. Etliche sind mehrfach beschuldigt.
Hinweis: Sind Sie selbst von sexuellem Missbrauch als Kind betroffen? Hier finden Sie Hilfe
Es gibt dieses Bild der evangelischen Kirche: Liberaler, offener und fortschrittlicher sei sie als die katholische Kirche. Es gibt kein Zölibat, keine Männerbünde an der Macht. Die evangelische Kirche sah sich immer als die bessere Kirche. Dieser Mythos bröckelt mit der nun veröffentlichten Studie zum Missbrauch. Aus dem Selbstbild wird eine Selbstlüge.
Betroffene wie Kracht erzählen, wie sie über Jahre versuchen, den Missbrauch in der Kirche zu melden. Doch es fehlen Meldestellen, es fehlen Verantwortliche und Ansprechpartner in der EKD, die Menschen helfen, die Gewalt durch Geistliche oder andere in der Kirche erfahren. Kracht arbeitet selbst auf, was die Kirche ignorierte, rief Pastoren an, traf andere Frauen, die einst von dem Pfarrer missbraucht worden waren.
Männer und Frauen erleben das, was schon in der katholischen Kirche passiert ist. Täter kommen davon, weil Straftaten verjähren. Weil die Institution sie deckt.
Ein großes Problem sehen Fachleute darin, dass die Evangelische Kirche in Deutschland föderal aufgebaut ist. Jede Landeskirche ist ein eigenes Reich – mit eigenen Regeln. Das behindert Aufklärung und Übernahme von Verantwortung.
Die Forscher beklagen, dass Personalakten von den Landeskirchen nicht geliefert wurden
Kracht berichtet, dass sie durchaus Hilfe von Mitarbeitern der Kirche bekommen habe. Aber sei sie unbequem geworden, habe man versucht, sie auszugrenzen. Unterstützung, sagen die Forscher, gibt es nur, solange nicht die Institution Kirche von den Betroffenen beschädigt werde.
Und die Aufklärung der Gewalt wird offenbar bis heute verschleppt. Die Forscher beklagen, dass Landeskirchen Personalakten nicht geliefert haben, oder nur nach und nach. Unterlagen fehlen, Dokumentationen und Protokolle sind nicht vorhanden.
Zugleich entdecken sie, wie die mangelnde Aufarbeitung des Missbrauchs in der Vergangenheit in der EKD mit Ausreden legitimiert wurde: Das sei nur in Heimen passiert, es sei lange her, es sei die Zeit der 70er-Jahre gewesen. Und überhaupt, es gebe Missbrauch ja überall.
Kracht sei damals bei den Übergriffen des Pastors zunächst erschrocken gewesen, erzählte sie vor einigen Jahren im Gespräch mit unserer Redaktion. „Aber vor allem habe ich gedacht: Wenn er das mit mir tut, dann muss er mich lieben.“ Mit 21 Jahren wird Kracht schwanger von dem Pastor, sie bricht die Schwangerschaft ab.
Heute steht Kracht vor Journalisten in Hannover. Sie trägt ein lila Sakko, um den Hals eine Kette aus silbernen Muscheln. Kracht erzählt von ihrem Kampf um Anerkennung in der Kirche. Ihre Geschichte trägt Wut in ihre Stimme. „Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung.“
Ein paar Meter weiter sitzt Kirsten Fehrs, Bischöfin und amtierende Ratsvorsitzende der EKD. Sie sei „erschüttert“ über das, was Menschen wie Kracht erzählen, sagt Fehrs in ihrer Rede. Sie spricht von „Strukturen“, die „Täter schützen“. Und: „Wir haben uns an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht.“
Fachleute: Wichtig sind externe Hilfsangebote, die unabhängig vom Kosmos Kirche sind
Kracht entgegnet ihr. Das seien schöne Worte, sagt sie, Erschütterung etwa. Worte, die sie schon oft gehört habe in den vielen Jahren, in denen Kracht dafür gekämpft hat, dass der Missbrauch an ihr anerkannt wird. Aber sie sagt enttäuscht: „Es bleibt bei schönen Worten.“
Die Forschenden der Studie fordern Konsequenzen. Der Föderalismus der EKD dürfe nicht verhindern, dass in allen Landeskirchen einheitliche Standards und Meldestellen für Missbrauchsopfer eingerichtet sind. Die Mitarbeitenden der Kirche müssten für den Umgang mit Betroffenen geschult werden. Vor allem reiche es nicht, die Aufklärung allein in der Institution Kirche zu belassen. Wichtig seien externe Hilfsangebote, staatliche Stellen etwa, die unabhängig vom Kosmos Kirche seien.
Es brauche zudem eine tiefere Analyse der Personalakten, um das Ausmaß der Gewalt besser zu verstehen. Daran fehlt es bisher. Zugleich verlangen die Betroffenen, dass die Täter Konsequenzen fürchten müssen. Auch das passiere bisher viel zu selten.
Der Pfarrer, der Katharina Kracht missbrauchte, stirbt 2013. Spürte er jemals Konseuqenzen?
2015 wandte Katharina Kracht sich an die Ansprechstelle für Opfer sexualisierter Gewalt der Landeskirche in Hannover, stellt einen Antrag auf Entschädigung. Am Ende erhält sie 35.000 Euro. Das klinge erstmal viel, erzählt Kracht im Gespräch mit unserer Redaktion. Aber das decke nicht die Kosten für die Therapie, die sie machen musste, die Zeit, in der sie nicht arbeiten konnte oder nur in Teilzeit.
Viele Jahre leidet Kracht an Angstanfällen, Schlafstörungen, Flashbacks und Migräne. Heute sagt sie: „Das Trauma geht nicht weg, aber man lernt, damit zu leben.“ Der Pastor, der Kracht missbrauchte, starb 2013. Für die Taten an mehreren Jugendlichen wurde er nie belangt.
Hinweis: Wenn Sie selbst als Kind oder Jugendliche von sexualisierter Gewalt betroffen waren, dann finden sie auf der Seite der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Hilfe. Klicken Sie hier für weiterführende Informationen.