Tel Aviv. Noch handelt es sich zwischen Israel und dem Libanon um einen „Krieg von geringer Intensität“. Doch Israel bereitet sich jetzt vor.
In Haifa, einer Küstenstadt 90 Kilometer nördlich von Tel Aviv, wurde der Luftschutzalarm selbst in den explosiven Monaten seit dem 7. Oktober nur wenige Male benötigt. Die Raketen der Hamas in Gaza reichen nicht bis hierher. Anders verhält es sich mit den Raketen der vom Iran gelenkten Hisbollah-Milizen im Libanon. Daher zuckten am Freitag in Haifa viele zusammen, als der Alarm losging: Ist das der Beginn eines neuen Kriegs, diesmal im Norden?
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Bisher lautete die Arbeitsthese der israelischen Armee, dass Hisbollah-Führer Nasrallah kein Interesse an einem Krieg habe. Immer mehr Menschen im Norden Israels stellen sich aber nun die Frage: Was, wenn man sich irrt?
Der Luftschutzalarm in Haifa, das sechzig Kilometer von der Grenze zum Libanon entfernt liegt, stellte sich bald als Fehlalarm heraus. Er wurde nicht durch eine Rakete ausgelöst, sondern durch die israelische Luftraumverteidigung, die auf eine nicht registrierte Drohne abzielte. Der Vorfall zeigt aber, wie angespannt die Lage ist. Sollte der „Krieg in geringer Intensität“, wie Israels Militärexperte Amos Yadlin die ständigen Gefechte im Norden nennt, tatsächlich in einen tatsächlichen Krieg umschlagen, wäre das eine Eskalation völlig neuen Ausmaßes.
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Israel und Libanon: Große Sorge vor neuer Front im Norden
Das Arsenal der Hisbollah ist nicht nur zehnmal so groß wie jenes der Hamas, es kann auch längere Strecken bedienen und erlaubt präzisere Schläge als das Raketenarsenal der Terrorgruppen im Gazastreifen.
Benny, ein älterer Taxifahrer aus Haifa, der beide Libanonkriege miterlebt hat, formuliert es so: „Gegen das, was die Hisbollah anrichten kann, sind die Hamas-Angriffe ein Kindergeburtstag.“
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Israels Armee betont weiterhin, der Fokus liege auf Gaza, nicht auf dem Norden. Auch Nasrallah hatte den Krieg zuvor zur rein palästinensischen Angelegenheit erklärt. Zugleich lässt er zu, dass die Angriffe auf Israel immer wieder auch über grenznahe Ziele hinausgehen – etwa am 6. Januar, als die Luftabwehrbasis am Meron-Berg mit Dutzenden Raketen angegriffen und beschädigt wurde.
Sollte einer dieser Angriffe – mit oder ohne Absicht – zu gröberen Schäden oder zivilen Opfern führen, dann bliebe Israel nichts anderes übrig, als den Krieg zu erklären, sagt Yadlin.
In Israel gibt es einige, die erst gar nicht so lange warten wollen. Ihre Vertreter sitzen auch im Sicherheitskabinett. Berichten zufolge hätte Verteidigungsminister Joav Gallant schon im Oktober den Krieg eröffnet. Es war US-Präsident Joe Biden, der Druck auf Netanjahu ausübte – aus Angst vor einer unkontrollierbaren Eskalation, an der sich dann auch US-Truppen beteiligen müssten. Als sich bald nach Kriegsbeginn die Oppositionspolitiker Benny Gantz und Gadi Eisenkot dem Kabinett anschlossen, setzten auch sie sich für Zurückhaltung im Norden ein – und sie tun es bis heute.
Israel: Militärstrategen geben drastischen Rat
Nun steigt aber der Druck. Militärexperten raten der Armee, den Zeitpunkt des Kriegsausbruchs nicht der Hisbollah zu überlassen, sondern selbst präventiv anzugreifen. Auch in der Bevölkerung wächst die Unzufriedenheit mit der Zurückhaltung des Kriegskabinetts. Immer noch können 100.000 Menschen nicht in ihre Dörfer und Städte nahe der Grenze zum Libanon zurückkehren. Ihre Betriebe und Landwirtschaften liegen brach, jeden Monat steigen die Verluste. Dass es der Hisbollah gelungen ist, Israel zur großräumigen Evakuierung der nördlichen Gebiete zu zwingen, sei schon für sich genommen „eine massive strategische Errungenschaft“, sagt Yadlin.
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Israel muss sicherstellen, dass die Bewohner im Norden bald in ihre Häuser zurückkehren können. Das setzt voraus, dass die Milizen der Hisbollah sich jenseits des Litani-Flusses zurückziehen – so, wie es die UN-Resolution 1701 vorsieht. In diesen Tagen wird unter US-Vermittlung versucht, eine Verhandlungslösung zu erreichen, die genau diesen Rückzug bewirkt, bis jetzt war die Hisbollah aber zu keinem Einlenken bereit. Israels Verteidigungsminister Gallant hat bereits ein Ultimatum definiert: Sollte es bis Ende Januar keinen Verhandlungserfolg geben, führe an einem Krieg kein Weg vorbei. Eine Lösung auf diplomatischem Wege sei aber jedenfalls die bevorzugte Variante, erklärte Gallant.
Israel spekuliert darauf, dass Nasrallah sich von den Drohungen beeindrucken lässt. Was man von vielen Sicherheitexperten im Land derzeit hört, ist folgende Devise: „Nasrallah hat kein Interesse daran, den Libanon für Sinwar (Yahya Sinwar, Hamas-Führer in Gaza, Anmerkung der Redaktion) zu opfern.“
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Israel: Armee stockt Truppen im Norden auf
Hisbollah-Vertreter Mohammad Raad wiederum bezeichnete Israel als „bloßgestellt“ infolge der Hamas-Angriffe und meinte, Israel sei „nicht vorbereitet auf den Krieg, für den sich der islamische Widerstand im Libanon gerüstet hat.“
Israel arbeitet nun laufend an einer Aufstockung der Truppen im Norden. Einige der Reservisten, die aus Gaza zurückgekehrt sind, wurden bereits an die libanesische Grenze verlagert und wurden dort in konkrete Strategiepläne für den Tag X eingeführt.
Seit dem 7. Oktober haben die Milizen im Libanon laut Angaben der israelischen Armee mehr als 2000 Geschütze auf Israel abgefeuert, den überwiegenden Teil auf grenznahe Gebiete. Sieben israelische Zivilisten und neun Soldaten kamen dabei zu Tode. Weitaus größer waren die Verluste bei der Hisbollah: Laut Angaben der proiranischen Miliz wurden mehr als 160 ihrer Kämpfer getötet.
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