Dresden. Das deutsche Bildungssystem steht in der Kritik. Ein Modellversuch zeigt, wie Schule auch anders funktioniert – mit messbarem Erfolg.
Die Außenwand des alten DDR-Schulgebäudes ist ungefähr so grau wie der Himmel an diesem Dezembermorgen. Einzelne verspätete Kinder und Jugendliche huschen über den Schulhof und verschwinden schnell hinter den verglasten Türen. Gegenüber, auf der anderen Seite des Hofs schafft ein zweistöckiger blau-weißer Containerbau mehr Platz für die wachsende Zahl der Schülerinnen und Schüler. Auf den ersten Blick sieht hier am Stadtrand von Dresden nichts nach Zukunft aus. Doch um ein modernes Äußeres geht es auch gar nicht – sondern um das, was innerhalb der Gebäudes passiert.
Hier, an der Universitätsschule, wird seit fünf Jahren in einem einzigartigen Modellprojekt getestet, wie Schule auch anders funktionieren kann. Ohne Noten, ohne Stundenpläne, ohne Klassen, ohne Fächer und ohne Frontalunterricht. Stattdessen steht die individuelle Entwicklung der Kinder im Fokus. „Wir individualisieren alles in unserem Leben, nur bei der Bildung setzen wir bisher auf Homogenisierung“, sagt Erziehungswissenschaftlerin Anke Langner von der Technischen Universität in Dresden, die federführend bei der Entwicklung des Schulkonzepts mitgewirkt hat und das Projekt wissenschaftlich begleitet.
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Die Einrichtung ist eine Gemeinschaftsschule, die in der Grundschule anfängt und die Kinder bis zum Haupt- und Realschulabschluss oder Abitur begleitet. Die Schüler lernen selbstbestimmt, individualisiert und kooperativ – und zwar alle, jahrgangsübergreifend. Und sie ist inklusiv. „Wenn man Inklusion bis zum Ende denkt, ist es die logische Folge, dass man auch nicht mehr nach Altersgruppe sortiert“, erklärt Langner. Gestartet ist die Schule im Jahr 2019 mit 83 Schülern der Jahrgänge eins, zwei, drei und fünf. Mittlerweile ist die Zahl auf knapp 730 Kinder und Jugendliche angewachsen. In diesem Jahr machen die ersten ihre Abschlussprüfungen.
Schule ohne Klassen: Lerngruppen sind jahrgangsübergreifend
In einem Raum im ersten Obergeschoss des neuen Containerbaus sind die Kinder an diesem Morgen bereits in ihre Arbeit vertieft. An der Tür hängt ein großes Schild mit der Aufschrift „Apollo 11“. Statt in Klassen sind die Schüler an der Universitätsschule in Gruppen unterteilt – die Namen haben sie sich selbst ausgesucht. Die Apollos setzen sich aus 26 Kindern der Jahrgangsstufen vier bis sechs zusammen. Gerade hat die erste Lernzeit, die sogenannte Atelierzeit, begonnen. Ein paar Kinder sind in Aufgaben vertieft, andere schauen sich Videos auf ihren Tablets an, wieder andere besprechen ihre Ergebnisse gemeinsam.
Alle Inhalte drehen sich heute um das Thema Sprache. An der Universitätsschule sind die Lerninhalte in drei Blöcke eingeteilt: Sprachen, Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften. Um möglichst individuelle Lernwege zu schaffen, funktioniert das Lernen in Bausteinen. Nach einem gemeinsamen verpflichtenden Frühstück tragen die Schüler jeden Morgen ihre individuellen Lernziele für den Tag in ein Logbuch ein.
Dafür wurde ein eigenes Lern- und Schulmanagementsystem entwickelt, das es sowohl den Kindern als auch den Lehrenden und Eltern ermöglicht, die Entwicklung im Blick zu behalten. Die Tagesziele werden gemeinsam mit den Lernbegleiterinnen und Lernbegleitern, wie die Lehrkräfte hier genannt werden, festgelegt. Anschließend holen sich die Kinder selbstständig die notwendigen Arbeitsblätter und Unterlagen aus einem Regal an der Wand des Gruppenraums und machen sich an die Arbeit.
Tablet für jedes Kind: Digitale Medien gehören in Dresden dazu
Der neunjährige Arthur ist gerade mit einer Aufgabe zum Thema „My Family“ beschäftigt und vervollständigt englische Sätze. Wenn er eine Vokabel nicht weiß, darf er dafür auch einen Übersetzer benutzen. Denn: Digitale Medien gehören hier zum Schulalltag dazu. Jedes Kind ab Jahrgangsstufe vier hat ein eigenes Tablet – das allerdings nur als Unterstützung dient. „Wir wollen, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, dass digitale Medien ein Werkzeug sind, da sie bewusst einsetzen können, aber kein Allheilmittel“, sagt Langner. Die Kinder sollen lernen, wann Medien ihnen wirklich helfen können und welche Gefahren sie mit sich bringen.
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Während der gesamten Lernzeit steht den Schülern ihre Lernbegleiterin Luisa Bartke für Fragen oder Hilfestellungen zur Seite. Wer mit einem Baustein fertig ist, kann einen sogenannten Gelingensnachweis ablegen – eine Art Test, nur ohne Druck. Die Schüler entscheiden selbst, wann sie sich bereit dazu fühlen und der Meinung sind, dass sie den Stoff verstanden haben. Die 12-jährige Sara hat gerade den Gelingensnachweis zum Thema Märchen geschrieben. Es lief gut, sagt sie. Und selbst wenn nicht, könnte sie den Gelingensnachweis einfach wiederholen. „Wir wollen ein positives Lernumfeld schaffen“, so Langner. „Wer negative Emotionen hat, kann nicht gut lernen.“
Auch deswegen wird an der Universitätsschule nicht von Lehrerinnen und Lehrern gesprochen, sondern von Lernbegleitern. „Es geht darum, die Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernprozess zu begleiten und ihnen zu helfen, selbst etwas zu entdecken“, sagt Langner. Die Kinder sollen ihren Lernbegleitungen vertrauen. Ein unisono aufgesagtes „Guten Morgen, Frau Bartke!“ gibt es nicht. Stattdessen duzen die Kinder ihre Lernbegleiterin. Für Luisa Bartke ist das kein Problem – im Gegenteil. „Ich habe das Gefühl, dass die Kinder dadurch auch weniger ängstlich sind“, sagt die 30-Jährige
Unterhalten erlaubt: Wem es zu laut ist, der bekommt Kopfhörer
Seit dem vergangenen Sommer arbeitet sie an der Universitätsschule. Davor hat sie an einer Regelschule unterrichtet – die Unterschiede sehe sie auch bei den Schülern, sagt Bartke: „An einer Regelschule habe ich bei den Kindern oft eine Abwehrhaltung erlebt.“ Nun jedoch merke sie, dass die Kinder viel angstfreier seien und Lernen entspannter wahrnehmen würden. Während des Gesprächs kommt immer wieder eines der Kinder zu Bartke und stellt Fragen. Die Kinder dürfen und sollen sich in der Lernzeit unterhalten, einander helfen und unterstützen. Wem es zu laut ist, der nimmt sich Noise-Cancelling-Kopfhörer aus dem Regal, wer eine Pause braucht, holt sich eine der Sanduhren und geht für ein paar Minuten in den Nebenraum oder nach draußen.
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Um 10.30 Uhr ist der erste Block vorbei. Nach einer Pause beginnt die Projektphase. Das projektbasierte Arbeiten bildet den Kern des Lernkonzepts. Jedes Projekt läuft über einen Zeitraum von mehreren Wochen. In dieser Zeit suchen sich die Schüler ein passendes Thema zu einem der drei Bereiche, erarbeiten Fragen, die sie daran besonders interessieren, und beantworten diese anschließend in Gruppen. Am Ende wird ein Produkt präsentiert, das ganz unterschiedlich aussehen kann – von einem Gegenstand über einen Text bishin zu einem Theaterstück. Ziel ist, dass die Schüler nicht nur fachliche Inhalte lernen, sondern auch übergreifende Fähigkeiten ausbilden.
Für die Projekte bekommen sie anschließend Feedback – aber keine Noten. „Eine Note ist immer situativ und sagt erst mal nichts darüber aus, was die Schülerinnen und Schüler wirklich können“, erklärt Langner. „Wir haben gesehen, dass viele Kinder ohne Noten entspannter lernen und auch entspannter in Testsituationen gehen.“ Erst ab der neunten Klasse, wenn die ersten Abschlussprüfungen geschrieben werden, erhalten die Schüler ein benotetes Zeugnis.
Keine Ferien, sondern Urlaub: Kinder haben individuell freie Zeit
Und noch etwas ist anders als an regulären Schulen: Die Kinder hier haben keine festen Ferienzeiten. Stattdessen steht ihnen, genau wie Arbeitnehmenden, eine bestimmte Anzahl an Urlaubstagen zu, die die Eltern beantragen können. Aber nicht alles, was an der Universitätsschule ausprobiert wird, bleibt auch so. Das Schulpersonal evaluiert kontinuierlich gemeinsam mit den Forschenden der Universität den aktuellen Stand. „Es ist ein permanentes Suchen nach dem besten Weg“, sagt Schulleiterin Maxi Heß. „Wir wollen herausfinden, wie wir den Weg in eine zukunftsfähige Schule neu denken können.“
Dabei geht es laut Heß vor allem darum, die Kinder optimal auf die Lebenswirklichkeit vorzubereiten. „Unser Ziel ist es, Schülerinnen und Schüler zu entlassen, die flexibel mit neuen Begebenheiten klarkommen, die miteinander gemeinsam Ziele erreichen können, die auch mal eine Krise aushalten und die vor allen Dingen ihre eigenen Stärken kennen und sich selbst reflektieren können.“ Bei vielen Eltern kommt das Konzept der Universitätsschule gut an: Mittlerweile gibt es nach Angaben der Schulleiterin fast doppelt so viele Anmeldungen an der Schule wie Plätze.
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