Rahat. Die Hamas ermordet am 7. Oktober nicht nur Juden, auch arabische Israelis sterben oder werden entführt. Ein Trauma, das verbinden kann.

Ata Abu Madighem sitzt an seinem mit Akten beladenen Schreibtisch, an der Wand hinter ihm hängt eine Karte von Rahat. Darauf klebt ein Foto einer jungen Frau, sie trägt ein dunkelblaues Kopftuch. Ihr Name ist Aisha Ziadna. Sie ist ein Symbol dafür, dass der Terror der Hamas am 7. Oktober nicht allein jüdische Israelis getroffen hat – und für die Hoffnung, dass diese Katastrophe einen Weg in eine Zukunft eröffnet, in der arabische und jüdische Israelis gleichberechtigter sind. „Der 7. Oktober hat vieles verändert“, sagt der Bürgermeister von Rahat. „Juden und Araber sind enger zusammengerückt. Die Zukunft gehört uns allen zusammen.“

Rahat liegt in der westlichen Negev-Wüste, rund 30 Kilometer entfernt vom Gazastreifen. Die Silhouette der Stadt ist geprägt von den Minaretten der vielen Moscheen, die hier in den vergangenen Jahren gebaut wurden. Mit etwa 83.000 Einwohnern ist Rahat die größte arabische Stadt in Israel. Die Bevölkerung ist jung, die Geburtenrate soll eine der höchsten weltweit sein. Die Bewohner der Stadt sind Beduinen, Menschen, die in früheren Zeiten als Nomaden mit ihren Herden die Wüste durchstreift haben und in den vergangenen Jahrzehnten zur Sesshaftigkeit gezwungen worden sind.

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Etwa 350.000 Beduinen sollen in der Negev-Wüste leben, rund ein Drittel von ihnen wohnt in gut drei Dutzend staatlich nicht anerkannten ärmlichen Blechhütten-Siedlungen, in denen es keine Schulen, Krankenhäuser oder regelmäßige Strom- und Wasserversorgung gibt. Ständig sind die nicht anerkannten beduinischen Siedlungen vom Abriss bedroht. Die Arbeitslosigkeit unter den Beduinen ist hoch, Armut grassiert, fast 30.000 ihrer Kinder besuchen keine Schule. In der israelischen Gesellschaft leben sie nicht nur geografisch am Rand. „Der Staat war nicht fair zu uns Beduinen“, sagt Bürgermeister Madighem lakonisch.

Israel: In Rahat fehlt es an ausreichend Schutzräumen

Als die Hamas die an den Gazastreifen angrenzenden israelischen Siedlungen überfiel und Tausende Raketen abschoss, wurden auch Beduinen zum Opfer des Terrors. Mindestens 26 Beduinen starben – darunter sieben durch Raketenbeschuss nahe Kuseife, einem Nachbarort von Rahat. Hunderte wurden verletzt, allein in Rahat zählten sie 65 Verwundete. Auch Bürgermeister Madighem beklagt den Tod von zwei Verwandten. „Niemand hat das erwartet“, sagt er. „Es war schockierend und schlimm. Nichts kann das Töten unschuldiger Menschen rechtfertigen.“

Unter den über zweihundert Geiseln, die die Angreifer in den Gazastreifen verschleppten, waren auch sieben Beduinen. Aisha Ziadna, 17, ihre Brüder Bilal und Hamsa und ihr Vater Youssef wurden aus dem Kibbuz Holit entführt, wo sie als landwirtschaftliche Helfer arbeiteten. Aisha Ziadna und ihr Bruder Bilal kamen Ende November frei. Der Vater und der ältere Bruder sind noch immer in Geiselhaft. Nach dem Terror-Überfall wird Rahat fünfmal mit Raketen attackiert. Einige kommen durch. „Wir haben hier leider einen großen Mangel an Schutzräumen“, sagt der Bürgermeister. Auch das unterscheidet Rahat von jüdischen Gemeinden.

Aisha Ziadna (l.) und ihr Bruder Bilal Ziadna kamen Ende November aus der Geiselhaft frei.
Aisha Ziadna (l.) und ihr Bruder Bilal Ziadna kamen Ende November aus der Geiselhaft frei. © Polaris/laif | Polaris/laif

Obwohl der Terror der Hamas auch die arabische Bevölkerung trifft, misstrauten viele jüdische Israelis ihren arabischen Mitbürgern in den ersten Tagen nach dem Überfall. Die israelischen Streitkräfte bereiteten sich darauf vor, Aufstände im Inneren des Landes zu stoppen. „Ich habe den ersten Monat damit verbracht, den Generälen klarzumachen, dass die Araber auf unserer Seite sind“, erinnert sich Tal Shamir, ein jüdischer Israeli, der im Heimatfront-Kommando der Armee als Verbindungsoffizier für die arabischen Kommunen eingesetzt ist. Er lebt in einem Dorf nahe des Gazastreifens.

„Wir spülen gerade die Meinungsfreiheit die Toilette herunter“

In Dekel ist das ständige dumpfe Dröhnen der Luftschläge gut zu hören. Shamir weiß, wie schwer es die arabischen Israelis derzeit haben. Manche hätten Verwandte im Gazastreifen, sagt er. „Die Leute, die da getötet werden, sind ihre Leute.“ Unter geltendem Kriegsrecht führt jedoch schon ein „Like“ in den sozialen Medien, das als Sympathie für die Hamas interpretiert werden kann, zu Verhaftungen. „Wir spülen gerade die Meinungsfreiheit, auf die wir so stolz sind, die Toilette herunter. Das gilt besonders für die Araber“, sagt Shamir. Trotzdem glaubt er an die Loyalität der arabischen Israelis. „Sie wollen zeigen, dass sie ein Teil Israels sind.“

Ata Abu Madighem, Bürgermeister der Stadt Rabat im Süden Israels, in der ausschließlich arabische Israelis leben, glaubt an ein gemeinsames Miteinander.
Ata Abu Madighem, Bürgermeister der Stadt Rabat im Süden Israels, in der ausschließlich arabische Israelis leben, glaubt an ein gemeinsames Miteinander. © Funke Foto Services | André Hirtz

In Shamirs Einheit dient auch Jamal Alkirnawi. Der 44-jährige Beduine ist Psychologe, Sozialarbeiter und Aktivist aus Rahat. In den vergangenen Jahren hat er mit seiner Organisation „A New Dawn in the Negev“ (in etwa: Ein neuer Morgen in der Negev) für die Verbesserung der Lebenssituation insbesondere der jungen Beduinen gekämpft. Seit einem Monat trägt er die olivgrüne Uniform der israelischen Streitkräfte. „Ich habe gefühlt, dass es an der Zeit ist. Ich konnte nicht einfach am Rande stehen und nichts tun. Es ist eine Mission“, sagt er. „Was wir am 7. Oktober gesehen haben, war ein Verbrechen gegen die Menschheit.“

Er hat sich zum Dienst bei den Streitkräften gemeldet, weil er in den arabischen Kommunen den traumatisierten Menschen helfen und sie emotional unterstützen will, sagt er. Betroffen von der Eskalation des Konflikts sind nicht nur diejenigen, die im Süden nahe dem Gazastreifen leben. Im Norden Israels sind viele Dörfer und Kleinstädte evakuiert worden, die an der Grenze zu Libanon liegen, weil die islamistische Hisbollah die Region seit dem 7. Oktober täglich mit Raketen und Mörsergranaten attackiert. Geräumt worden ist auch Arab al-Aramshe, eine Siedlung, in der über eintausend Beduinen leben. Die Menschen sind jetzt in Hotels untergebracht.

Im Gazastreifen liefert sich die israelische Armee erbitterte Kämpfe mit der Hamas.
Im Gazastreifen liefert sich die israelische Armee erbitterte Kämpfe mit der Hamas. © AFP | -

Arabischer Israeli rettete 30 Menschen vom Nova-Festival

Alkirnawi sagt, ihm sei klar, dass es unter jüdischen Israelis Ängste und Vorurteile gegenüber den Arabern im Land gebe, sie würden sehr militärisch denken. „Daran müssen wir als Gesellschaft arbeiten.“ Er sagt aber auch: „Vielleicht haben wir unsere Meinungsverschiedenheiten. Aber ich spüre jetzt auch viel Solidarität unter den verschiedenen Gruppen.“ Wie der Bürgermeister von Rahat glaubt auch der Aktivist daran, dass das Grauen vom 7. Oktober eine Chance sein kann – eine Chance auf ein engeres Zusammenwachsen jüdischer und arabischer Israelis. „Wir teilen doch alle das gleiche Schicksal.“

In Rahat erzählen sie deswegen nicht nur die Geschichten der Opfer, sondern auch die eines Helden, der denselben Namen trägt wie der entführte Familienvater Youssef Ziadna. Dieser Youssef Ziadna ist 47 und Minibusfahrer. Am 7. Oktober rettete er unter dem Beschuss der Hamas-Angreifer 30 junge Menschen von dem Gelände des Nova-Musikfestivals. Kurze Zeit nach dem Überfall der Hamas besuchte der israelische Präsident Isaac Herzog zum ersten Mal die Stadt und traf sich mit den Angehörigen der Entführten. Er sagt: „Das ist nicht ein Krieg zwischen Juden und Muslimen. Es ist ein Krieg zwischen denen, die das Licht bringen wollen und denen, die die Dunkelheit bringen wollen.“