Brüssel. Ungarns Premier Viktor Orban droht mit Veto beim EU-Gipfel. Was ihn antreibt, warum die Lage so brisant und die Ukraine so besorgt ist.
Es ist alles so schön geplant für Europa und die Ukraine – nur leider ohne Viktor Orban. Bei einem am Donnerstag beginnenden Gipfeltreffen in Brüssel wollen die EU-Regierungschefs eigentlich Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der beschließen. Das soll dem kriegsgebeutelten Land eine stabile Perspektive in der EU eröffnen. Zugleich wollen sie 50 Milliarden Euro aus der EU-Kasse für Kiew bewilligen – Geld für die nächsten vier Jahre, von dem die Ukraine aber schnell einen Abschlag benötigt, sonst droht 2024 die Zahlungsunfähigkeit, erst recht, seit auch der US-Kongress Finanzhilfen sperrt.
Doch plötzlich könnte aus dem starken Schulterschluss zum Ende des zweiten Kriegsjahres ein desaströser Misserfolg werden. Kurz vor dem Gipfeltreffen herrscht Panik in Brüssel und in Kiew. Ein einmaliger Eklat droht: Wird der ungarische Premier Orban die Ukraine-Beschlüsse wirklich blockieren, was wegen des Einstimmigkeitsprinzips im Club der Regierungschefs jederzeit möglich ist? In einem Schreiben hat Orban Ratspräsident Charles Michel aufgefordert, die Ukraine-Vorhaben von der Tagesordnung zu nehmen, sonst werde der Gipfel „unvermeidlich scheitern“. Michel reiste umgehend nach Budapest, um Orban zu besänftigen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron empfing Orban in Paris.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bemühte sich ebenfalls in einem Telefongespräch um den Regierungschef. Alles vergeblich. In der Bundesregierung hieß es zuletzt, Bundeskanzler Olaf Scholz wolle beim Gipfel doch noch versuchen, Orban zu überzeugen. Es sei aber „schwer zu sagen“, ob dies möglich sei. Denn je näher der Gipfel rückt, desto stärker die Befürchtung, Orban pokere diesmal nicht – sondern könnte es wirklich ernst meinen.
Verdacht in der EU: Tut Orban Putin einen Gefallen?
Seine scharfen Attacken in Richtung Ukraine nähren in europäischen Hauptstädten den Verdacht, der Premier erledige das Geschäft des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Mit dem teilt Orban die Ablehnung westlich-liberaler Werte, mit ihm versteht er sich auch sonst nach wie vor gut, wie ein freundschaftlicher Besuch in Moskau kürzlich zeigte. Die Ukraine sei „eines der korruptesten Länder der Welt“, sie sei „Lichtjahre“ von der Beitrittsreife entfernt, erklären Orban und seine Vertrauten. Wenn die EU trotzdem die Gespräche beginne, verrate sie ihre Prinzipien.
Außerdem: Zwei Drittel seiner Landsleute seien gegen Beitrittsverhandlungen. Die negative Stimmung in Ungarn schürt Orban selbst, gerade hat er eine Volksbefragung gestartet, in der die Bürger eingeladen werden, ihren Unmut gegen angeblich genmanipuliertes Getreide aus der Ukraine oder gegen Finanztransfers nach Kiew zu bekunden; zur Einstimmung hat Orban eine neue Plakatkampagne abgesegnet, die unter anderem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufs Korn nimmt.
In Ungarn wird offen diskutiert, dass das Land mit dem Beitritt der Ukraine Nachteile erleiden würde, weil es deutlich weniger EU-Fördermittel und weniger Einflussmöglichkeiten zu erwarten hätte. Dazu kommt ein langer Streit über die Behandlung der ungarischen Minderheit in der Ukraine. Selenskyj hatte zuletzt auch auf Druck der EU eingelenkt und ein Gesetz unterzeichnet, dass unter anderem öffentlichen Schulen wieder mehr Spielraum lässt, wenn sie in Minderheitensprachen wie dem Ungarischen unterrichten wollen. Aber Orban will viel mehr.
Ukraine: Orban stellt Europas Waffenhilfe infrage
Sein Land ist im Energiesektor weiter sehr abhängig von Russland, bei Gas und Erdöl ebenso wie bei Atombrennstoffen; von den EU-Sanktionen hat sich Orban Ausnahmen erzwungen. Ganz im Sinne Putins fordert er jetzt eine strategische Diskussion der Regierungschefs über die Ziele der Ukraine-Hilfe. Ein Sieg der Ukraine sei nicht in Sicht, meint der Ministerpräsident, es müsse über den Sinn der Sanktionen und der Waffenhilfen gesprochen werden. Allenfalls eine strategische Partnerschaft der Union mit der Ukraine komme infrage, aber keine Beitrittsperspektive: „Wenn wir es schaffen, dass die Ukraine sich der EU annähert, sehen wir in einigen Jahren weiter“, sagt Orban.
Der Premier weiß, dass die anhaltende Korruption und die oligarchischen Strukturen in der Ukraine auch in anderen EU-Ländern Skepsis über den Stand der Beitrittsreife nähren. Deshalb soll der Gipfel ja auch nur ein politisches Signal für die Verhandlungen geben, beginnen würden die Gespräche sowieso erst, wenn Kiew weitere Hausaufgaben erledigt hat. Und ob die Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahrzehnt abgeschlossen werden, ist völlig offen. So gibt es aus der Sicht anderer Regierungschefs gar keine Notwendigkeit, auch bei Bedenken so frontal wie Orban auf Konfrontation zu gehen. Zumal in der aktuellen Lage, die für die Ukraine ohnehin bedrohlich ist.
EU-Kommission will Orban mit Milliarden umstimmen
Die EU-Kommission spekuliert deshalb offenbar darauf, der Eklat lasse sich abwenden, wenn sie Orban in einem hässlichen Finanzstreit weit entgegenkommt. 22 Milliarden Euro an EU-Regionalfördermitteln für Ungarn hatte die Kommission wegen gravierender Rechtsstaatsmängel eingefroren. Jetzt will Kommissionspräsidentin von der Leyen kurz vor dem Gipfel einen Teil davon freigeben, die Rede ist von zehn Milliarden Euro – offiziell mit der Begründung, Ungarn habe Fortschritte bei den Justizreformen gemacht, aber wohl auch in der Erwartung, Orban werde sich beim Gipfel erkenntlich zeigen. Kritiker wie der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner erheben deshalb schwere Vorwürfe: „Von der Leyen lässt sich erpressen und opfert die Demokratie in Ungarn, um die Demokratie in der Ukraine zu retten“, klagt Körner. Ein „dreckiger Deal“ sei das, der Orbans „Oligarchenstaat“ am Leben halte. Ähnlich äußern sich die Grünen. Für die Mehrzahl der Regierungschefs wäre es diesmal das kleinere Übel.
Diplomaten und Kommissionsbeamte fürchten aber, Orban werde auch für viel Geld nicht einlenken. Der Ungar, so die Sorge, sehe sich durch die Wahlerfolge seiner rechtspopulistischen Gesinnungsfreunde Geert Wilders in den Niederlanden und Robert Fico in der Slowakei, aber auch durch die Kriegsmüdigkeit anderswo in Europa ermutigt, den Ukraine-Kurs der EU brachial zu stoppen. Die Ukraine ist entsprechend alarmiert. Die Eröffnung von Beitrittsgesprächen sei die „Mutter aller Entscheidungen“, mahnte Außenminister Dmytro Kuleba Anfang der Woche in Brüssel. Europa müsse Wort halten. Wenn nicht, habe das verheerende Folgen für den gesamten Kontinent.