Brüssel/Berlin. Er galt als zu schüchtern für den Thron, doch nun überzeugt er: Belgiens König Philippe kommt nach Deutschland – mit klarer Agenda.
Er war zu schüchtern und unbeholfen, um König zu werden. Viel später hat er es im zweiten Anlauf doch noch auf den Thron geschafft. In dieser Woche kommt der belgische König Philippe zum ersten Staatsbesuch nach Deutschland. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz empfangen einen ungewöhnlichen Monarchen, der die Fans von Königshäusern auf besondere Weise fasziniert: Philippe von Belgien ist der leiseste König Europas. Er zeigt, dass sich auch aus Schüchternheit eine Stärke machen lässt – doch er muss sich einem schwierigen Erbe stellen.
In Deutschland werden der König der Belgier und Königin Mathilde bei ihrem ersten Staatsbesuch feierlich empfangen. In Berlin erwarten sie am Dienstagnachmittag militärische Ehren und später ein Staatsbankett im Schloss Bellevue. Der Gang durchs Brandenburger Tor mit dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner und der Empfang im Bundeskanzleramt stehen ebenso auf dem Programm wie am Donnerstag ein Besuch von Frauenkirche und Weihnachtsmarkt in Dresden .
Philippes Interesse bei weiteren Terminen gilt guten Beispielen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit Belgiens und Deutschlands, etwa im Energiesektor und der Mikroelektronik. Der Besuch würdige die vielfältigen Verbindungen beider Länder: von der wirtschaftlichen Kooperation über die Zusammenarbeit bei der Energiewende bis hin zum kulturellen Austausch, heißt es im Bundespräsidialamt. Mit Steinmeier versteht sich der 63-Jährige gut, die beiden haben sich schon häufiger getroffen.
Philippes schwere Kindheit in der Königsfamilie
Wäre alles reibungslos verlaufen im Leben des Staatsgastes aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha, würde er das Programm als einer der dienstältesten Monarchen Europas absolvieren. Philippe hätte eigentlich schon 1993 den Thron besteigen sollen, nach dem Tod seines Onkels – des beliebten, aber kinderlosen Königs Baudouin. Der Junge war seit seinem elften Lebensjahr in der Obhut Baudouins aufgewachsen, seine leiblichen Eltern Albert und Paola waren durch eine anhaltende Ehekrise und allerlei Affären abgelenkt. Die Erziehungsprobleme wären eigentlich ein Fall für Sozialarbeiter von der Jugendbehörde gewesen, urteilte später der belgische Kinderpsychiater Peter Adriaenssens in einer TV-Königsdoku.
Baudouin hatte Philippe als Thronfolger vorgesehen. Aber als sein Ziehvater starb, hieß es plötzlich, der damals 33-Jährige sei für die repräsentative Aufgabe ungeeignet: zu schüchtern, zu scheu, zu hölzern, keine Spur von Redegewandtheit – und das trotz seines Politikwissenschafts-Studiums an den Top-Universitäten Oxford und Stanford. Bei öffentlichen Auftritten geriet Philippe schnell ins Stottern. „Er kann es nicht“, lautete das Urteil. Zeitweise kursierten sogar Autismus-Gerüchte.
Deshalb stieg dann doch sein lebenslustiger Vater Albert, der sich gleichermaßen gern mit schönen Frauen und schnellen Motorrädern befasste, auf den Thron und blieb immerhin zwei Jahrzehnte Staatsoberhaupt. Als Albert II. 2013 aus gesundheitlichen Gründen abdankte, waren die Zweifel an Philippe nicht verschwunden. Jeder zweite Belgier erklärte laut Umfragen, aus ihm werde kein guter König. Doch Philippe überraschte seine Untertanen: Er hatte erstens die Zeit genutzt, um öffentliche Auftritte zu üben. Im Dienste der belgischen Wirtschaft hatte er im Ausland für heimische Unternehmen geworben.
Belgiens König Philippe: Das ist seine größte Aufgabe
Zweitens hatte er die aus belgischem Adel stammende Mathilde d‘Udekem d’Acoz geheiratet, die ihm als starke Frau zur Seite stand, ohne sich in den Vordergrund zu spielen: Die Logopädin und Diplom-Psychologin ist anders als Philippe charmant und zugewandt, dazu gilt sie als so stilsicher wie die britische Herzogin Kate. Zusammen wirkt das Paar bodenständig und zugänglich. So gewann Philippe Selbstsicherheit. Den anhaltenden Mangel an Charisma macht der König drittens zur Stärke: Statt mit glamouröser Inszenierung aufzutrumpfen, löst er mit ruhiger Hand Probleme.
Und Probleme hat Philippe genug: Seine wichtigste Aufgabe ist es, das zersplitterte Königreich Belgien mit seinen drei Regionen (Flandern, Wallonien, Brüssel) und drei Sprachgemeinschaften (Flämisch, Französisch, Deutsch) zusammenzuhalten. Es herrscht ein wirres Kompetenzgeflecht und im wohlhabenden Norden die Tendenz zum Separatismus, Regierungsbildungen dauern extrem lang – auf den König kommt es an, er muss den fragilen Staat irgendwie zusammenhalten. Zum Staatsbesuch wird Philipp deshalb nicht nur von der belgischen Regierung in Person der Außenministerin begleitet, sondern auch von den Spitzen der drei Regionen und der deutschen Sprachgemeinschaft.
Dem König ist es gelungen, hinter den Kulissen für Stabilität zu sorgen und Chaos zu verhindern, was ihm die Belgier hoch anrechnen. Er hat zugleich endlich damit begonnen, das dunkelste Kapitel der belgischen Geschichte aufzuarbeiten: Für die Verbrechen der erst 1960 beendeten belgischen Kolonialzeit im Kongo hat er öffentlich sein Bedauern ausgedrückt. Sein Vorfahre Leopold II. hatte das Land im 19. Jahrhundert als Privatbesitz beschlagnahmt und gnadenlos ausgeplündert, Millionen Einheimische wurden getötet oder misshandelt.
Plötzlich hatte König Philippe eine Halbschwester
Philippe brachte auch als Geste die sterblichen Überreste von Patrice Lumumba, dem ersten Premierminister der Republik Kongo, an seine Familie nach Afrika zurück. Der als Volksheld gefeierte Lumumba war 1961 entführt, gefoltert und ermordet worden – mit Unterstützung Belgiens und des US-Geheimdienstes CIA. Seine in Säure aufgelöste Leiche wurde nie gefunden, übrig blieb nur ein Goldzahn, den ihm ein belgischer Polizist als Trophäe aus dem Mund gerissen und an sich genommen hatte.
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Das Einlenken des Königs wird in der Republik Kongo als Durchbruch gewürdigt, nachdem der belgische Staat viele Jahrzehnte versuchte, über die früheren Kolonialverbrechen den Mantel des Schweigens auszubreiten. Weil sich auch Deutschland verspätet seiner – nicht ganz so brutalen – Kolonialgeschichte stellen muss, hätten Bundespräsident und Kanzler auch zu diesem Thema einiges mit Philippe zu besprechen.
Das diplomatische Geschick des Königs ist indes auch in der eigenen Familie gefragt: Vorgänger Albert II. hatte aus einer langjährigen Affäre mit Baronin Sybille de Sélys Longchamps eine uneheliche Tochter, die er aber jahrzehntelang eisern verleugnete. Erst als ein Gericht ihn 2019 zum DNA-Test gezwungen hatte, stand zweifelsfrei fest, dass er Vater der Künstlerin Delphine Boël war – und Philippe also eine Halbschwester hat. Das Königspaar reagierte umgehend, lud Delphine ins Schloss ein, verlieh ihr den Titel einer Prinzessin und nahm sie in die Familie auf, was die Belgier wiederum sehr zu schätzen wussten.
Königin wird die Halbschwester aber nicht mehr. Offizielle Thronfolgerin ist Elisabeth, älteste der vier Kinder von Philippe und Mathilde. Die 22-Jährige hat schon vor Jahren verkündet, sie bereite sich auf ihre Aufgaben als Königin gewissenhaft vor, und versprach: „Das Land kann auf mich zählen.“ Wenn es so weit ist, wird sie die erste Königin in der Geschichte Belgiens sein. Der Wechsel dürfte dann schon im ersten Anlauf klappen.
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