Berlin. Was ist, wenn Russland kein Gas für Südosteuropa liefert? Welche Folgen hat ein sehr kalter Winter? Wir erklären die Situation.
Die Anzeigen bewegen sich im grünen Bereich. Mitte November verzeichnet der europäische Speicherverband Gas Infrastructure Europe (GIE) quer über den Kontinent Speicherfüllstände knapp unter oder bei 100 Prozent, so auch in Deutschland. Auch die Preise für Endkunden sind niedrig, liegen auf einem Niveau wie zuletzt im Herbst 2021. Zu Beginn des zweiten Winters nach dem russischen Überfall auf die Ukraine stellt sich die Lage in der deutschen Gasversorgung deutlich entspannter dar als noch vor einem Jahr.
Doch die Heizsaison hat gerade erst begonnen, und die Sorge vor bösen Überraschungen in der Gasversorgung besteht weiterhin. Die Bundesnetzagentur hat deshalb in mehreren Szenarien durchgerechnet, in welchen Fällen die Versorgung in Deutschland in diesem Winter zum Problem werden könnte.
Die Behörde nimmt als Ausgangspunkt ihrer Modellierung die 95 Prozent Füllstand an, die die Gasspeicher nach dem Gesetz zum 1. November erreichen müssen. Zugrunde gelegt werden zudem die Importe und Exporte von Gas des vergangenen Winters sowie eine 50-prozentige Auslastung der LNG-Terminals. Außerdem geht die Netzagentur von einem Winter mit ausgeprägten Kältephasen, wie es sie im Winter 2012 gegeben hat.
Die Bundesnetzagentur hat mehrere Szenarien durchgespielt
Auf Grundlage dieser Daten spielt die Behörde zwei Stränge durch – einen, in dem es gelingt, trotz des kalten Winters immerhin noch 10 Prozent Gas einzusparen. Und einen, in dem es keine Einsparungen durch Industrie und Verbraucher gibt.
Szenario 1:
Im ersten Szenario bleiben die Ein- und Ausfuhren von Gas auf dem Niveau der Grundannahmen des Modells. Weitere Schocks für die Versorgung bleiben aus. In diesem Fall kommt es zu keiner Mangellage. Selbst wenn keine Einsparungen gelingen, wären die Speicher zum Ende des Winters noch zu 33 Prozent gefüllt. 10 Prozent Einsparungen würden sogar einen Füllstand von 52 Prozent ermöglichen, was die erneute Befüllung für den Winter darauf erleichtern würde.
Szenario 2:
Hier geht die Bundesnetzagentur davon aus, dass die deutschen Gasspeicher wie in Szenario 1 gefüllt sind, es aber einen höheren Export in die Nachbarstaaten (in Höhe von 20 GWh/h) gibt. Das könnte der Fall sein, wenn über die -Pipeline, über die derzeit Teile Südosteuropas mit russischem Gas versorgt werden, nichts mehr fließt. Dann würden etwa Österreich und die Slowakei, die derzeit noch russisches Gas beziehen, über Deutschland mitversorgt werden.
Schaffen es Industrie und Verbraucher in Deutschland, 10 Prozent Gas einzusparen, ist die Versorgung hierzulande auch in diesem Fall gesichert, die Speicher lägen Ende des Winters noch bei 23 Prozent.
Gelingen allerdings keine Einsparungen, werden die höheren Exporte zum Problem. Dann würde der Speicherfüllstand auf gerade einmal fünf Prozent sinken – und ab Anfang Februar würde Gas fehlen. Die Bundesnetzagentur geht für diesen Fall von einer Fehlmenge von fünf Terawattstunden aus. Zum Vergleich: Im Januar und Februar 2023 wurden laut Bundesnetzagentur in Deutschland insgesamt gut 196 Terawattstunden Erdgas verbraucht.
Szenario 3:
In der dritten Variante kommen zum Ausfall der Lieferungen aus Russland noch sehr tiefe Temperaturen im Rest Europas hinzu. Im vergangenen Winter wurde die Lieferung von Gas nach Deutschland aus den westlichen Nachbarstaaten laut Bundesnetzagentur sehr durch den witterungsbedingt niedrigen Eigenverbrauch begünstigt. Mit sinkenden Temperaturen in diesen Ländern könnte es aber ein Rückgang der Importe nach Deutschland geben.
Bei 10 Prozent weniger Verbrauch in der Bundesrepublik würde auch die Kombination aus reduzierten Importen und erhöhten Exporten noch keinen Mangel bedeuten. Die LNG-Terminals wären dann laut Modellierung bis zu 90 Prozent ausgelastet, die Speicher stünden am Ende des Winters bei 17 Prozent.
Ohne Einsparungen allerdings wird es in diesem Fall kritisch: Dann könnte der Gasbedarf nicht mehr vollständig gedeckt werden, fehlen würden 13 Terawattstunden. Und der Speicherstand fiele bis Ende März auf zwei Prozent.
Im Fall einer Mangellage kann die Regierung die „Notfallstufe“ ausrufen
Derzeit gilt in Deutschland immer noch die „Alarmstufe“ des Notfallplans Gas. Sollte es wirklich zu einer Mangellage kommen – oder sich eine solche ankündigen –, hat die Bundesregierung die Möglichkeit, die „Notfallstufe“ auszurufen. Im Ernstfall kann dann die Bundesnetzagentur als Bundeslastverteiler entscheiden, wer noch Gas bekommt und wer nicht. Haushalte und soziale Einrichtungen gehören in einem solchen Fall zu den geschützten Verbrauchern.
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Ob tatsächlich eine Mangellage droht, entscheidet sich also unter anderem an der Frage, wie kalt der Winter in Deutschland und Europa wird. „Bei einem durchschnittlichen Winter, in dem die Menschen 20 Prozent Gas einsparen können, sind wir gut versorgt“, sagte Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur, dieser Redaktion. „Erst wenn der Winter so kalt wird, dass kaum Einsparungen möglich sind, gibt es Szenarien, in denen wir Probleme bekommen.“
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Danach sieht es bislang allerdings nicht aus. Der Oktober war mild, und der Deutsche Wetterdienst sieht derzeit „eine leichte Tendenz für einen wärmeren Winter im Vergleich zum selben Drei-Monats-Mittel im Zeitraum 1991 bis 2020“, wie er auf Anfrage mitteilt.
Deutschland profitiert auch davon, dass Europa insgesamt besser vorbereitet ist auf diesen Winter. „Die Gasspeicher sind trotz der bereits gestarteten Heizperiode voller als zu jedem Zeitpunkt in den vergangenen Jahren“, sagt Georg Zachmann, Experte für Energiemärkte am Brüsseler Thinktank Bruegel. Die Nachfrage sei um zehn bis zwanzig Prozent niedriger, die EU habe deutlich mehr LNG-Importkapazitäten verfügbar als in der Vergangenheit. Diese gute Ausgangslage spiegele sich auch in den Gaspreisen wider. Selbst bei einem Wegfall russischen Gases und in einem besonders kalten Winter hätte Europa dann im April noch 20 Prozent Gas im Speicher. „Eine Versorgungskrise würde nur im unwahrscheinlichen Fall des Zusammentreffens mehrerer schwerer Schocks auftreten“, sagt er.
Netzagenturchef Müller appelliert, weiterhin Gas zu sparen
Netzagentur-Chef Müller appelliert trotzdem weiterhin an Bürger und Bürgerinnen, umsichtig mit dem Gasverbrauch umzugehen. Der milde Winter im vergangenen Jahr habe zur Folge gehabt, dass Deutschland mit vergleichsweise vollen Speichern aus der Heizsaison kam. Deshalb sei es auch nicht so schwer gewesen, die Speicher über den Sommer zu füllen. „Das Ziel ist, dass am Ende des Winters noch so viel Gas wie möglich in den Speichern ist“, sagt Müller über diesen Winter. „Die gesetzliche Vorgabe von 40 Prozent wollen wir einhalten, und alles darüber hinaus macht das Befüllen im Sommer schneller, preiswerter und sicherer.“
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Er rät deshalb dazu, auch in diesem Winter darüber nachzudenken, ob wirklich alle Räume einer Wohnung dieselbe Temperatur brauchen oder ob abgestuft werden kann. Auch über richtiges Lüften könne man Energie sparen. Und mit einem Anruf beim Handwerker, der einen hydraulischen Abgleich macht, könne man überprüfen lassen, ob die Heizkörper richtig eingestellt sind. „Damit verbrennt man weniger Gas und weniger Geld“, sagt Müller.