Kandahar. Pakistan will 1,7 Millionen geflüchtete Afghanen loswerden, die Methoden sind unmenschlich. Es gibt Berichte von Gewalt – und Mordlust.
Abdul Haleem steht vor dem großen, in schreiend bunten Farben angemalten Lastwagen, mit dem seine Familie am Tag zuvor in Spin Boldak angekommen ist. Die Erschöpfung steht dem alten Mann ins Gesicht geschrieben. Zwei Tage und zwei Nächte waren sie von Karatschi aus unterwegs gewesen – der pakistanischen Großstadt, die 820 Kilometer entfernt im Süden liegt und die ein Vierteljahrhundert lang das Zuhause von Haleem war. Jetzt musste er sie Hals über Kopf verlassen. So wie dem 75-Jährigen ergeht es in diesen Tagen Hunderttausenden Afghanen, die als Flüchtlinge im Nachbarland gelebt haben. Dem ohnehin so geplagten Land am Hindukusch droht eine neue Katastrophe.
Als Abdul Hameel seine Heimat verließ, hatten gerade die Taliban zum ersten Mal die Macht in Afghanistan übernommen. Einmal mehr lösten politische Veränderungen eine Flüchtlingswelle nach Pakistan aus, so wie der Einmarsch der Sowjets im Jahr 1979 oder der erbarmungslose Bürgerkrieg in den 1990er Jahren. Hameel schlägt sich in den Jahren danach als Tagelöhner durch, wie so viele andere Flüchtlinge aus Afghanistan gilt er als Illegaler. Seine Kinder wachsen in Pakistan auf. Sein Enkel Waleei Mohammed wird in der neuen Heimat geboren. Hameel geht davon aus, in Pakistan zu sterben. Aber am 3. Oktober dieses Jahres ändert sich alles.
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Die pakistanische Regierung verkündet an diesem Tag, illegale Ausländer aus dem Land hinauszuwerfen. Betroffen sind davon 1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge wie Abdul Hameel. Offiziell heißt es, die Flüchtlinge stellten ein mögliches Sicherheitsrisiko dar. In Pakistan verüben immer wieder die Tehrik-i-Taliban (TTP) Anschläge, sie stehen ideologisch der afghanischen Taliban nahe. Allerdings befindet sich Pakistan derzeit in einer schweren innenpolitischen und wirtschaftlichen Krise. Beobachter gehen davon aus, dass die Flüchtlinge nun zu Sündenböcken gemacht werden sollen.
In Spin Boldak stranden jeden Tag neue Flüchtlingsfamilien
Jetzt werden sie mit rabiaten Methoden in ein Land vertrieben, das vielen fremd geworden ist – und das immer wieder von Naturkatastrophen wie dem Erdbeben in Herat im Oktober heimgesucht wird. „Vor einem Monat ist die Polizei zu uns gekommen, und hat uns gesagt, wir müssen gehen“, erzählt Abdul Hameel. Die Beamten hätten ihm gedroht, ihn ins Gefängnis zu werfen, wenn er nicht 250.000 pakistanische Rupien zahle, umgerechnet rund 820 Euro. „Das waren fast alle unsere Ersparnisse“, klagt der alte Mann. Die Familie mietete einen Lastwagen, packte ihre Habseligkeiten zusammen und machte sich auf den Weg. 45 Männer, Frauen und Kinder waren sie insgesamt. An der pakistanischen Grenze zwingen die Grenzbeamten die Gruppe, noch einmal 25.000 Rupien zu zahlen, jetzt sind sie mittellos.
In Spin Boldak, der ersten Stadt hinter der Grenze, steht der Lastwagen, mit dem die Familie gekommen ist, auf einem großen Parkplatz. Frauen und Kinder kauern in seinem Schatten auf dem Boden, Dutzende dieser großen, völlig überladenen Ungetüme stehen hier, vollgepackt mit dem, was die Flüchtlinge mitnehmen konnten. Staubige Möbel, Säcke voller Kleidung, Fahrräder, Käfige mit kleinen Vögeln, auf einem Lastwagen meckert eine weiße Ziege. Immer wieder kommen neue Trucks an, sie stoßen schwarze Abgaswolken aus und wirbeln den Staub auf. Die Menschen, die von ihnen herunterklettern, wirken verstört, sie sind hungrig, durstig, den Kindern stehen die Haare verfilzt vom Kopf. Oft haben sie sich seit vielen Tagen nicht mehr waschen können.
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Neben dem Parkplatz steht ein weiß getünchtes Gebäude, von dem der Putz abbröckelt. Es ist eine alte Schule, die eilig zu einem Registrierungszentrum umfunktioniert worden ist. In den Gängen drängen sich die Flüchtlinge, es riecht nach Schweiß, aufgeregtes Stimmengewirr liegt in der Luft. In einem der früheren Klassenzimmer testen Ärzte, ob die Menschen an Tuberkulose oder Corona erkrankt sind. „Wir arbeiten hier jeden Tag 15 Stunden, und das seit zehn Tagen“, sagt ein junger Mediziner mit schwarz umrandeten Augen. In einem anderen Klassenzimmer erfassen Helfer die biometrischen Daten der Familienoberhäupter. Bis Montagmittag haben sie hier in Spin Boldak rund 61.000 Menschen registriert.
Wer Pakistan nicht verlassen will, wird festgenommen
Abdul Hameel stammt ursprünglich aus Kunduz, der Provinz im Norden Afghanistans, in der die Bundeswehr zwei Jahrzehnte lang stationiert war. Dorthin soll er nun weiterreisen. „Aber wir haben da nichts“, sagt er. Das ist das Problem vieler Flüchtlinge. Sie werden in ein Land deportiert, in dem sie keine Perspektive haben und in dem schon bald der Winter mit seinen eisigen Nächten beginnt. Die gemieteten Lastwagen bringen sie lediglich in die Stadt, die der Provinz ihren Namen gegeben hat.
Kandahar liegt zwei Autostunden nordwestlich von Spin Boldak. Die Fahrt führt über eine einst von den Amerikanern gebaute Landstraße durch eine unwirtliche Landschaft: Steinerne Hügel wachsen wie graue Wolken aus der rostbraunen Erde, in der Ferne ragen zerklüftete Berge in den Himmel, von dem eine bleiche Sonne scheint. Auf der Straße sind viele Flüchtlings-Laster unterwegs, auch in kleinen Autos sitzen viele Menschen inmitten von Gepäck. Sind sie in Kandahar angekommen, werden die Lastwagen auf einem zentralen Platz entladen. Gut zwei Dutzend Familien sitzen neben den Resten ihres Lebens und wissen nicht weiter.
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Queamuddin Ander, Anfang vierzig, zeigt empört und ratlos ein schmuddeliges Papier, das er lange aufbewahrt hat – es ist eine Bescheinigung, dass er in Quetta in Pakistan ein Haus erworben hat. „Sie haben es mir einfach abgenommen, ich habe nichts dafür bekommen“, erzählt er. Andere Männer zeigen Entlassungspapiere. Sie haben im Gefängnis gesessen. „Wenn du nach dem 3. Oktober in der Stadt warst, um einzukaufen, bist du festgenommen worden“, erzählt einer. Erst als sie zugesagt hatten, Pakistan sofort zu verlassen, seien sie freigekommen.
Afghanistan: In den Flüchtlingscamps fehlt es an allem
Geschichten wie diese erzählen in diesen Tagen alle Menschen, die in Pakistan gelebt haben und nun wieder nach Afghanistan zurückmüssen. Am Grenzübergang Torkham in der Provinz Nangarhar berichten Ärzte davon, dass sie viele Menschen mit schweren Wunden von Schlägen gegen die Köpfe, Beine oder Arme behandeln müssten. In einem Flüchtlingscamp in der Provinz Laghman zeigt ein Mann ein Bild auf seinem Telefon. Auf ihm ist ein Toter zu sehen. „Das ist mein Bruder“, klagt er. „Die pakistanische Polizei hat ihn mit seiner Frau vor den Augen der vier Kinder erschossen.“
Die afghanischen Behörden sind mit der Situation überfordert. Es sind zu viele Katastrophen, die das Land am Hindukusch in den vergangenen Monaten heimgesucht haben. Nach der erneuten Machtübernahme der Taliban vor zwei Jahren hat sich die Welt von Afghanistan abgewandt, es fließt nicht mehr viel Hilfe in das Land. Es fehlt an allem. „Wir brauchen Medikamente, Zelte, Decken, Essen“, sagt Barakatullah, ein junger Arzt des Afghanischen Roten Halbmonds, der am Grenzübergang Torkham bis an den Rand der Erschöpfung arbeitet. Bis Montagmittag sind rund 400.000 Menschen aus Pakistan in Afghanistan angekommen.
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