Berlin. Opferanwalt Andreas Schulz über den Wert eines zerstörten Lebens, Vertuschungsstrategien und mangelnden Aufarbeitungswillen der Kirche.
Sexualstraftäter Peter H. wurde jahrzehntelang zwischen dem Bistum Essen und dem Erzbistum München und Freising hin und hergeschoben und trotz einer Bewährungsstrafe in der Seelsorge eingesetzt. Eines seiner Opfer ist Andreas Perr. Er hat das Erzbistum München und Freising auf 350.000 Euro Schadensersatz verklagt, wovon 50.000 Euro allein auf das Konto des verstorbenen Joseph Kardinal Ratzinger gehen. Sein Anwalt Andreas Schulz spricht im Interview über Vertuschungsstrategien, das Ausnutzen der Verjährungsfristen und das Versagen der Kirche bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle.
Herr Schulz, Ihr Mandant fordert 350.000 Euro Schmerzensgeld für sein verpfuschtes Leben nach dem Missbrauch. Ist so viel ein zerstörtes Leben wert?
Andreas Schulz: Die Messlatte für klerikalen Missbrauch liegt bei 300.000 Euro. Grundlage ist das Kölner Urteil vom Juni dieses Jahres: Das Erzbistum Köln muss einem früheren Messdiener 300.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Er war in den 1970er Jahren von einem Priester mehr als 300 Mal missbraucht worden. Angemessen wäre jedoch ein Betrag, der bei mindestens einer Million Euro und in den meisten Fällen sogar darüber liegen dürfte, wenn man alle Bewertungsfaktoren wie zum Beispiel entgangener Verdienstausfall über Jahrzehnte, Verlust an Rentenansprüchen und entgangene Lebensfreude miteinbezieht. Nach den Prozessen in Köln und Traunstein wird man sehen, ob deutsche Gerichte diese Meilensteine übernehmen und weiter ausbauen werden.
Sowohl Köln als auch Traunstein sind Zivilprozesse. Warum kommt es so selten zu Strafprozessen, bei denen die Täter mit Haftstrafen rechnen müssen?
Schulz: Strafprozesse kamen jahrzehntelang nicht in die Gänge, weil die Vertuschungsstrategien der Kirche auf allen Ebenen – in der Justiz und in der Zivilgesellschaft – Wirkung zeigten. Strafanzeigen von Opfern wurden unterdrückt, Zeugen und Angehörige mit Exkommunizierung und ewigen Höllenfeuer bedroht. Zudem haben Strafverfolgungsbehörden mit Bischöfen mit dem Ziel der Vertuschung zusammengearbeitet. Im Zivilrecht nennt man das kollusives Zusammenwirken. Tatsächlich wurden Täter und Vertuscher einer strafrechtlichen Verfolgung entzogen.
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Ein schwerer Vorwurf.
Schulz: Ja, aber alles in allem waren sämtliche kirchlichen und staatlichen Akteure darauf bedacht, gemeinsam das rettende Ufer der Verjährung zu erreichen. Diese Haltung änderte sich ansatzweise erst 2010 durch die Veröffentlichung des Missbrauchs am Berliner Canisius Kolleg – doch da waren die meisten Taten schon verjährt.
Wäre es möglich und nötig, die Verjährungsfristen bei Missbrauch – 20 Jahre ab dem 30. Geburtstag des Opfers – aufzuheben?
Schulz: Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Die Aufhebung von Verjährung bei sexuellem Missbrauch ist – wie bei Mord und Völkerstrafrechtsverbrechen – sowohl als Präventions- als auch als Reaktionsmechanismus unabdingbar. Täter und Vertuscher müssen wissen, dass sie einer irdischen Strafe nicht entkommen können und selbst eine Beichte sie nicht vor der weltlichen Verantwortung für ihre schändlichen Taten bewahrt.
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Sie haben angekündigt, auch das Bistum Essen zu verklagen. Warum?
Schulz: Das wird so geschehen müssen, weil sich das Bistum Essen der Empfehlung der Deutschen Bischofskonferenz anschließt, keine außergerichtlichen Vergleiche mit Betroffenen abzuschließen, die außerhalb des kircheninternen Anerkennungsverfahrens getroffen werden. Das bedeutet: Will ein Betroffener eine Entschädigungsleistung, die über demjenigen Betrag liegt, den die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) für angemessen hält, soll er den steinigen Weg eines Zivilprozesses beschreiten. Der offizielle Grund ist: Eine dritte Instanz – also das Gericht – soll entscheiden, damit es keine Mauschelei gibt. Das ist eine perfide und verlogene Ausrede, die jeglicher christlichen Moral entbehrt und das Geschäftsmodell der Leitungsebene einer katholischen Täterorganisation ist.
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Eine harte Aussage. Wie kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?
Schulz: Die Verantwortlichen wissen, dass im deutschen Zivilprozess prozessuale Hürden zu bewältigen sind, welche Betroffene nur mit größter Anstrengung überwinden können. Schließlich befinden Sie sich finanziell als auch mental ohnehin in der schwächeren Position. Das kircheninterne Verfahren ist ein Almosen-Modell. Es ist gewissermaßen der Schadensschnelldienst der Kirche und wird als schonendste Option für die Missbrauchsopfer angepriesen – ähnlich wie bei Kfz-Versicherungen.
Wie bewerten Sie den Umgang der Kirche mit den Opfern?
Schulz: Schlechter als die katholische Kirche in Deutschland kann man Krisenmanagement nicht machen. Die Verantwortlichen und ihre teuren Berater lassen keinen Fehler aus, den man in einer solchen Lage machen kann. Schadensbegrenzung ist für das „Team Kirche“ ein Fremdwort – das Mantra lautet vielmehr Schadensvertiefung um jeden Preis. Hier verdient die Kirche Bestnoten und ihre Berater Millionenhonorare.
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Sehen Sie wenigstens einen ernsten Willen zur Aufarbeitung?
Schulz: Der Wille zur Aufarbeitung ist nur ein täuschender Showroom, der den wahren Blick in den Darkroom der Kirche verhindern soll. Es fängt bei der verweigerten Akteneinsicht in die Geheimarchive der Bischöfe an und endet in den Archiven des Vatikans. Die Vertuschungsstrategie wird mit vermeintlichen Transparenzinitiativen fortgeführt. Prävention beginnt schließlich mit echter Aufarbeitung und nicht mit Webseiten, die Betroffene anlocken sollen, um diese mit dem kircheninternen Schadensschnelldienst von rechtlichen Schritten für eine angemessene Entschädigung bei Zivilgerichten abzuhalten.
Alles dreht sich also um die kircheninternen Anerkennungsverfahren ...
Schulz: Die Frage ist doch: Wie kann eine Täterorganisation die Aufklärung ihrer eigenen Straftaten ernsthaft betreiben – und obendrein auch noch die Höhe der Entschädigung festlegen? Sollte dieses Modell Bestand haben, können sich auch die Mafia oder kolumbianische Drogenkartelle damit vom Vorwurf der Schuld befreien. Der Internationale Strafgerichtshof beziehungsweise nationale Gerichte sollten dann ihre Arbeit einstellen.