Berlin/Gaza/Kairo. Der Einschlag in einer Klinik in Gaza löst in Arabien wütende Proteste aus. Ein Vierer-Gipfel mit US-Präsident Joe Biden ist geplatzt.
Eine Rakete zischt durch den Nachthimmel. Dann schlägt sie am Boden ein. Weißer Rauch steigt auf, Flammen schlagen hoch. Sanitäter tragen blutüberströmte Menschen auf Tüchern oder Bahren. Männer und Frauen schreien, gestikulieren wild. Am Dienstagabend herrschen im Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt Hektik und Chaos.
Die Bilder auf dem Video, das die „New York Times“ veröffentlicht, sind nur schwer zu ertragen. „Mehrere Hundert Menschen“ seien getötet oder verletzt worden, meldet das palästinensische Gesundheitsministerium. Die im Gazastreifen herrschende islamistische Hamas-Organisation macht Israel für das Unglück verantwortlich.
Israel: Fehlgeleiteten Rakete der palästinensischen Terrorgruppe Islamischer Dschihad
Das israelische Militär spricht hingegen von einer fehlgeleiteten Rakete der palästinensischen Terrorgruppe Islamischer Dschihad. Die Zerstörungen auf einem Parkplatz neben der Klinik seien vor allem durch eine sehr große Menge an Raketenantriebsmittel verursacht worden, betonte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari. „Der Treibstoff hat eine größere Explosion ausgelöst als der Sprengkopf selbst.“ Auf dem Parkplatz hätten sich zum Zeitpunkt des Einschlages viele Menschen aufgehalten.
Zur Unterstützung ihrer Argumentation veröffentlichten die israelischen Streitkräfte den Mitschnitt eines abgehörten Gesprächs zwischen zwei Mitgliedern der Hamas. „Die Rakete gehört zum Palästinensischen Islamischen Dschihad“, betonte einer der beiden Hamas-Vertreter. „Es gab eine Fehlfunktion“, fügte er hinzu. „Sie sagen, die Schrapnelle der Rakete sind lokale Schrapnelle und sehen nicht wie israelische aus.“ Die Rakete sei vom Friedhof hinter dem Krankenhaus abgefeuert worden.
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas spricht von einem „Krankenhaus-Massaker“
Der Islamische Dschihad bezeichnete die Anschuldigung Israels als „Lüge“. Das Land wolle damit „seine Angriffe auf Krankenhäuser rechtfertigen“ und „sich der Verantwortung für sein Verbrechen entziehen“.
Unabhängig überprüfen lassen sich die Versionen nicht. Doch allein der Raketeneinschlag genügte, um in der arabischen Welt wütende Proteste zu entfachen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sprach von einem „Krankenhaus-Massaker“. An mehreren Orten im Westjordanland demonstrierten Tausende gegen Israel.
In der Nähe der israelischen Botschaft in der jordanischen Hauptstadt Amman protestierten am Mittwoch etwa 5000 Menschen gegen Israel. Jordanien gehörte bislang wie Ägypten zu den gemäßigten arabischen Staaten, die um ein pragmatisches Verhältnis zu Israel bemüht waren.
Im Libanon strömten in den südlichen Vororten von Beirut Hunderte Hisbollah-Anhänger auf die Straßen und verlangten, Tel Aviv zu bombardieren. Im Iran skandierte eine Menge im Stadtzentrum Teherans „Nieder mit Israel“. Der iranische Präsident Ebrahim Raisi drohte, dass „die Flammen der US-israelischen Bomben, die heute Abend auf die verletzten Palästinenser im Krankenhaus in Gaza abgeworfen wurden“, die „Zionisten (...) verzehren werden“.
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Die Hamas rief zu weltweiten Protesten an diesem Wochenende auf
Vor den diplomatischen Vertretungen Israels in Istanbul und Ankara versammelten sich Tausende Menschen zu Protestkundgebungen gegen Jerusalem. Einige schwenkten palästinensische Flaggen und riefen: „Nieder mit Israel!“ Israel forderte seine Staatsbürger aus Angst vor Vergeltungsschlägen zum Verlassen der Türkei auf.
Die Hamas rief zu weltweiten Protesten an diesem Wochenende auf. Ein Repräsentant der Gruppierung sagte in Beirut: „Wir appellieren an unser palästinensisches Volk und an das Volk der arabischen und islamischen Nation, am kommenden Freitag in allen Städten (...) zu demonstrieren.“ Am Sonntag sollten die Proteste gegen „Massaker, Kriegsverbrechen und Völkermorde in Gaza“ weitergehen.
Auch in Deutschland demonstrierten vielerorts Unterstützer der Palästinenser spontan, teils gewaltsam. In Berlin wurde ein Brandanschlag auf ein Jüdisches Gemeindezentrum verübt. Nach einer Pro-Palästina-Mahnwache am Brandenburger Tor wurden nach Polizeiangaben Einsatzkräfte angegriffen. In mehreren Städten Nordrhein-Westfalens, in Stuttgart, Mannheim und Bremen gab es ebenfalls pro-palästinensische Kundgebungen.
Auch gemäßigte arabische Länder positionieren sich gegen Israel
Die Wut auf der arabischen Straße setzt die jeweiligen Regierungen unter Druck. Ein Flächenbrand der öffentlichen Meinung kann bewirken, dass sich die politischen Führungen eindeutig gegen Israel positionieren – im Falle extremer Eskalation auch militärisch. „Arabische Regierungen haben Angst vor Demonstrationen ihrer Bevölkerung, wenn sie als zu freundlich gegenüber Israel wahrgenommen werden“, sagte ein hochrangiges Regierungsmitglied eines arabischen Landes unserer Redaktion.
Das trifft vor allem auf Länder zu, die sich bislang um eine Annäherung an Jerusalem bemüht haben – etwa Saudi-Arabien. Das Königreich verurteilte das „abscheuliche Verbrechen“ der Klinik-Bombardierung in Gaza aufs Schärfste - und machte Israel dafür verantwortlich. Riad kritisierte die „anhaltenden Angriffe der israelischen Besatzung“ auf Zivilisten. Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi sprach von einem „israelischen Bombenangriff“ auf das Krankenhaus. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate gaben Israel die Schuld. Marokko rügte die „Bombardierung“ der Klinik „durch israelische Streitkräfte“ ebenfalls. Bahrain schloss sich der Kritik am „israelischen Bombenanschlag“ an.
Ein Vierer-Gipfel mit US-Präsident Joe Biden ist geplatzt
Die aufgeheizte Stimmung versetzte Bemühungen, den Konflikt durch Diplomatie zu deeskalieren, einen Dämpfer. Einen Tag nach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) statte US-Präsident Joe Biden Israel einen Solidaritätsbesuch ab. Ein für Donnerstag in Amman geplantes Gespräch mit Palästinenserpräsident Abbas, dem ägyptischen Staatschef al-Sisi und dem jordanischen König Abdullah II. wurde von arabischer Seite abgesagt.
Biden war eigentlich zu einer Art Zuhör-Tour in den Nahen Osten gereist. Bei seiner Visite in Israel wolle Biden auch „harte Fragen“ stellen, erklärte John Kirby, Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der US-Regierung. Zudem werde er sehr deutlich machen, dass die Vereinigten Staaten keine Ausweitung des Konflikts wollten, so Kirby.
Scholz: „Es ist wichtig, dass dieser Vorfall sehr genau aufgeklärt wird“
Am Mittwochnachmittag stellte sich der Chef des Weißen hinter die israelische Darstellung des Raketeneinschlags in Gaza. „Auf Grundlage dessen, was ich gesehen habe, scheint es so, als sei es von der Gegenseite ausgeführt worden, nicht von Euch“, betonte Biden vor Gesprächen mit dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu.
Bundeskanzler Scholz und Ägyptens Präsident al-Sisi zeigten sich nach einem Krisengespräch am Mittwoch in Kairo extrem besorgt, dass die Lage in der Region eskalieren könnte. „Die Fortsetzung der militärischen Konfrontation wird Auswirkungen haben, die wir nicht kontrollieren können“, warnte al-Sisi. „Es ist eine sehr ernste und schwierige Zeit“, unterstrich Scholz. Gleichzeitig mahnte er, Ruhe zu bewahren: „Es ist wichtig, dass dieser Vorfall sehr genau aufgeklärt wird.“ Nach seiner Rückkehr nach Berlin beriet der Kanzler am Nachmittag mit dem Sicherheitskabinett. Thema: der Konflikt in Nahost. Und natürlich die Lage der deutschen Geiseln in Gaza.
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