Berlin. Außenministerin Annalena Baerbock spricht über Todesangst in der Ukraine. Für Kremlchef Wladimir Putin findet sie deutliche Worte.

  • Außenministerin Annalena Baerbock hält ukrainische Angriffe auf russisches Territorium für gerechtfertigt
  • Die Grünen-Politikerin sieht Putins Regime auch in Russland isoliert
  • Und sie sagt, warum sie sich von einer möglichen Rückkehr von Donald Trump nicht „kirre machen“ lassen will

Es sind hektische Zeiten in der internationalen Politik. Die Termine drängen sich noch mehr als sonst. Zwischen der Konferenz der deutschen Botschafterinnen und Botschafter in Berlin und der Internationalen Automobilausstellung in München empfängt Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) unsere Redaktion und unsere französische Partnerzeitung „Ouest-France“ zum Interview. Hinter ihrem Schreibtisch steht ein Schwarzweiß-Foto der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir. In der Ecke befindet sich ein Trampolin – „nicht nur zur Dekoration“, so die Ministerin.

Frau Ministerin, wann kehrt in der Ukraine endlich Frieden ein?

Annalena Baerbock: Traurigerweise gilt nach wie vor: Allein der russische Präsident hat es in der Hand. Er bringt jeden Tag furchtbares Morden und Zerstörung über die Ukraine – nun schon seit über 560 Tagen.

Die ukrainische Armee wehrt sich nicht nur im eigenen Land, sondern trägt den Krieg auch auf russisches Territorium. Ist das in Ihrem Sinne?

Baerbock: Dieser brutale russische Angriffskrieg wird nicht nur mit Panzern und Soldaten in der Ukraine geführt, sondern auch mit erbarmungslosen Attacken aus Russland heraus. Das habe ich selbst erlebt, als ich letzten Winter bei minus 15 Grad in Charkiw war und Raketenalarm ausgelöst wurde. 45 Sekunden haben die Menschen nach dem Alarm, bis die Rakete einschlägt. Man sagte mir: Zählen Sie bis 60 – wenn Sie dann noch leben, können Sie aufatmen. Das erleben die Menschen in der Ukraine jeden einzelnen Tag. Die Ukraine hat ein Recht auf Selbstverteidigung, ein Recht darauf, die Angriffe bestmöglich abzuwehren. Das geschieht vor allem mit Luftverteidigung, aber das schützt die Menschen in Städten wie Charkiw eben nur bedingt beziehungsweise gar nicht, weil sie zu nahe an Russland liegen. Eine Reaktionszeit von wenigen Sekunden ist auch für die besten Luftverteidigungssysteme eine sehr schwierige Aufgabe.

Die Gegenschläge erreichen inzwischen russisches Herzland. Billigen Sie auch das?

Baerbock: Nicht die Ukraine greift Russland an, sondern Russland ist mit Panzern, Soldaten, Raketen in die Ukraine einmarschiert. Wenn die Ukraine sich dagegen verteidigt, um ihre Menschen zu schützen, tut sie das im Einklang mit dem Völkerrecht. Konkret dem Recht auf Selbstverteidigung, verbrieft in der UN-Charta. Das sind die Leitplanken unseres Handelns und die Grundlage unserer militärischen Unterstützung.

Die Hinweise, dass die Ukraine – und nicht Russland – hinter der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee steckt, verdichten sich. Treibt Sie das um?

Baerbock: Wir leben zum Glück in einem Rechtsstaat. Die Aufklärung liegt in den Händen des Generalbundesanwalts. Zu laufenden Ermittlungen kann ich nichts sagen.

Sind Sie in jedem Fall dafür, deutsche Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern?

Baerbock: Wir haben die furchtbare Situation, dass niemand genau weiß, was in den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine vor sich geht – wie viele Menschen dort verhungern, gefoltert werden oder sich in Kellern verstecken, weil sie Angst vor Vergewaltigung und Ermordung haben. All das ist möglich, weil die russische Armee riesige Minenfelder angelegt hat zwischen den besetzten Gebieten und dem Rest der Ukraine. Um die Menschen im Osten der Ukraine zu befreien, um russische Nachschublinien hinter der Verteidigungslinie zu treffen, muss der Minengürtel überwunden werden. Insofern ist die ukrainische Bitte nach Gerät mit größerer Reichweite mehr als verständlich.

Im Interview: (v.l) Sébastien Vannier, Michael Backfisch, Jochen Gaugele und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).
Im Interview: (v.l) Sébastien Vannier, Michael Backfisch, Jochen Gaugele und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). © FUNKE Foto Services | Anikka Bauer

Sie wollen Taurus also liefern.

Baerbock: Das ist keine Sache, die man einfach mal so schnell machen kann – so wie auch bei den Leopard-Panzern und beim Luftabwehrsystem Iris-T muss vorher jedes Detail geklärt sein. Auch da war entscheidend: Wie können wir die Ukraine in der aktuellen Lage bestmöglich unterstützen.

Die Marschflugkörper können so programmiert werden, dass sie russisches Gebiet nicht erreichen. Sollten wir das tun?

Baerbock: Andere Partner haben sich ähnliche Fragen auch gestellt und dafür Lösungen gefunden.

Wie sicher sind Sie, dass Putin nicht doch zu Atomwaffen greift?

Baerbock: Putin spielt mit der Angst. Er verbreitet Terror – mit Angriffen auf Geburtskliniken, Bahnhöfe, Schulen. Er hat gehofft, mit Drohungen und unverantwortlicher Rhetorik die internationale Hilfe zu unterbinden. Aber wir lassen uns davon nicht einschüchtern. Wir werden der Ukraine weiter beistehen.

Ist die Gefahr einer atomaren Eskalation gebannt?

Baerbock: Putin hat nicht damit gerechnet, dass der Angriff auf die Ukraine von der Welt als das verurteilt wird, was er ist: ein Angriff auf das Völkerrecht. Und nach dem Besuch des Bundeskanzlers letzten Herbst hat auch der chinesische Präsident sehr deutlich gemacht, dass es nicht zu einer nuklearen Eskalation kommen darf.

Haben Sie den Eindruck, Putin ist geschwächt?

Baerbock: Dieser Krieg zeigt, dass brutale Gewalt nicht mächtig macht. Putin ist nicht nur grausam gegen die Ukraine, sondern auch gegen die Opposition im eigenen Land vorgegangen. Das hat sein Regime in die Einsamkeit und Isolation geführt. Auch zum Leid vieler Menschen in Russland.

Wie realistisch ist die Perspektive, dass die Ukraine der EU beitritt?

Baerbock: Die Frage ist nicht ob, sondern wann. Die Ukraine ist ein europäisches Land. Sie hat den Kandidatenstatus. Und sie zeigt mitten in einem brutalen Krieg große Reformanstrengungen.

2030?

Baerbock: Das wäre für die Menschen in der Ukraine wunderbar. Derzeit tobt leider der Krieg und so brutal das ist, es kann keine Abkürzungen geben. Alle Beitrittskandidaten – die Ukraine, Moldau, die Staaten des westlichen Balkans – müssen entschlossen Reformen angehen. Und auch die EU muss sich fit machen für die Erweiterung. Dafür sind die kommenden Jahre entscheidend. Europa für die Zukunft, für unsere Kinder und Enkel gut aufzustellen, ist mir Herzensangelegenheit. Denn Europa ist unsere Lebensversicherung.

Wird die Ukraine schneller in der Nato sein als in der EU?

Baerbock: Die Aufnahmekriterien unterscheiden sich. Nato-Mitglieder sind verpflichtet, jeden Quadratzentimeter des Bündnisgebiets zu verteidigen. Daher kann die Ukraine nicht aufgenommen werden, solange sie im Krieg ist. Aber klar ist: Die Zukunft der Ukraine liegt nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch in der Nato.

Annalena Baerbock (l, Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin, und Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz im Gespräch. Baerbock sagt, dass das Machtzentrum der Grünen bei Habeck liege.
Annalena Baerbock (l, Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin, und Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz im Gespräch. Baerbock sagt, dass das Machtzentrum der Grünen bei Habeck liege. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Was droht, wenn Donald Trump wieder US-Präsident wird?

Baerbock: Das Schöne an Demokratie ist, dass Wahlen in den Händen der Menschen liegen und man nicht weiß, wie sie ausgehen. Wir sind als Europäer nicht blauäugig unterwegs, lassen uns aber auch nicht kirremachen. Die Bundesregierung arbeitet mit der aktuellen US-Regierung – der Kanzler mit Präsident Biden, ich mit meinem Kollegen Tony Blinken – transatlantisch und auch persönlich wahnsinnig eng zusammen. Russlands Krieg hat uns weiter zusammengeschweißt. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen sind aber nicht auf eine Partei abonniert, deswegen werde ich auf meiner USA-Reise in der kommenden Woche natürlich auch viele Gespräche mit republikanischen Politikern führen. Ein wichtiges Thema ist dabei unsere langfristige Hilfe für die Ukraine.

Wäre Europa auf einen Nato-Austritt der USA vorbereitet?

Baerbock: Ich bin davon überzeugt, dass sich die Debatten über ein Ende der Nato diesseits und jenseits des Atlantiks erledigt haben.

Ist es dann gar nicht so wichtig, dass sich Europa bei der Verteidigung von Amerika emanzipiert?

Baerbock: Ich folge dem Grundsatz: Kooperation wo möglich und eigene Handlungsfähigkeit wo nötig. Es geht nicht um Emanzipation aus Prinzip. Der russische Angriffskrieg hat gezeigt, dass wir Europäer stärker in der Lage sein müssen, uns selbst zu schützen. Wir müssen wehrhaft sein und entsprechend in unsere gemeinsame europäische Verteidigung investieren. Dazu gehört auch die Entwicklung einer europäischen Rüstungsindustrie, statt weiter über ein Dutzend unterschiedlicher Panzermodelle zu benutzen und nicht digital miteinander funken zu können.

Aus der Ukraine sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, und die Zahl der Asylbewerber aus anderen Ländern steigt. Bis August haben mehr als 175 000 Menschen einen Erstantrag auf Asyl gestellt - 78 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Ist die Belastungsgrenze der Kommunen erreicht?

Baerbock: Es ist unglaublich, was unser Land, was alle in den Landkreisen, Städten, Dörfern vor Ort leisten. Ähnlich in Polen, Tschechien oder Moldau, wo im Verhältnis zur Einwohnerzahl noch mehr Ukrainerinnen und Ukrainer Schutz gefunden haben. Das ist alles andere als leicht. Daher mein großes Dankeschön an Eltern, Lehrer, Bürgermeisterinnen und Landräte, die sich täglich den Kopf zerbrechen, wie sie die vielen Geflüchteten versorgen können. Das ist ein Kraftakt der Menschlichkeit, der unser Land auszeichnet und für den wir als Bundesregierung im Mai den Kommunen und Ländern eine weitere Milliarde Euro bereitgestellt haben.

Begrenzen Sie auch die Zuwanderung?

Baerbock: Wir können die Krisen auf der Welt nicht auf Knopfdruck beenden. Deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt zu einer europäischen Asylreform kommen, die zu einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge führt, zur schnelleren Rückführung, wenn kein Anspruch auf Asyl besteht und zu Arbeitserlaubnissen für die, die da sind und die bleiben.

Die Ampelregierung will Georgien und Moldau zu sicheren Herkunftsländern erklären - warum nicht auch Marokko, Tunesien und Algerien? Die Anerkennungsquote, daran hat jetzt auch CDU-Chef Friedrich Merz erinnert, ist gleichermaßen gering.

Baerbock: Aus innenpolitischen Gründen außenpolitisch mit dem Rasenmäher vorzugehen, halte ich für einen gewagten Ansatz. Daher habe ich immer dafür geworben, von dem Konstrukt der sicheren Herkunftsländer, das Länder plakativ menschenrechtlich abstempelt, wegzukommen. Georgien und Moldau allerdings sind auf dem Weg in die EU und setzten auf diesem weitgehende Reformen bei Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten um – sonst könnten sie ja nicht Mitglied der EU werden. Und zu Herrn Merz: Offensichtlich sind die letzten Entwicklungen in Tunesien – darunter die Verhaftung prominenter Oppositioneller und die Aushöhlung der geltenden Verfassung – im bayrischen Wahlkampf an ihm vorbeigegangen.

Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen), Außenministerin, spricht mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Baerbock betont, dass Deutschland weiter an der Seite der Ukraine steht.
Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen), Außenministerin, spricht mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Baerbock betont, dass Deutschland weiter an der Seite der Ukraine steht. © dpa | Michael Kappeler

Die Asylpolitik ist einer der Gründe, warum Merz einer schwarz-grünen Koalition im Bund eine Absage erteilt.

Baerbock: Dann frage ich mich, warum seine CDU in sechs Bundesländern mit uns regiert.

Würden Sie lieber mit der CDU koalieren als mit SPD und FDP?

Baerbock: Ich habe meine Koalitionspartner eigentlich ganz gern.

Nur jeder fünfte Bürger in Deutschland, das zeigen Umfragen, ist mit der Ampelkoalition zufrieden. Reichen die Gemeinsamkeiten für eine zweite Halbzeit?

Baerbock: Ich bin ein riesen Sportfan und beim besten Fußballspiel wird es erst in der zweiten Halbzeit so richtig interessant. Deutschland braucht dringend eine Modernisierung. In der Verwaltung, wo man Monate auf den Perso wartet. Bei der Digitalisierung. Und bei der Infrastruktur, selbst bei Autobahnbrücken. Dafür sind wir als Regierung – gerade auch in dieser Ampel mit den unterschiedlichen Blickwinkeln auf unser Land angetreten. Und dann kam der russische Angriffskrieg, der unsere finanziellen Spielräume massiv einschränkt. Daher gilt es jetzt umso mehr: Ärmel hoch und gemeinsam anpacken. Solche Strukturfragen, vor denen die CDU sich 16 Jahre gedrückt hat, erledigt man nicht über Nacht. Wir führen manche Debatten in der Regierung auch stellvertretend für die Gesellschaft.

Vor allem die Grünen sind in der Wählergunst abgestürzt. Woran liegt das?

Baerbock: Ganz so ist es ja nicht. Gleichzeitig sehe ich, dass es offensichtlich eine große Verunsicherung in unserem Land gibt – und zwar allen demokratischen Parteien gegenüber. Deshalb müssen wir alle besser werden.

Die Vielstimmigkeit der Grünen in der Asylpolitik oder auch beim Wachstumschancengesetz hat die Frage aufkommen lassen, wer in Ihrer Partei das Sagen hat. Wo ist das Machtzentrum?

Baerbock: Beim Vizekanzler, Robert Habeck natürlich.

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Robert Habeck ist die Nummer eins?

Baerbock: Der Vizekanzler führt die Grünen in der Koalition. Ähnlich wie auch andere haben wir ein strategisches Beratungszentrum mit denjenigen, die auch im Koalitionsausschuss sitzen. Das sind neben Robert Habeck und mir auch die jeweils beiden Vorsitzenden von Partei und Fraktion.

Ist es seriös, eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten aufzustellen, wenn man in den Umfragen bei 15 Prozent liegt?

Baerbock: Wer sich in solchen Zeiten zwei Jahre vor einer Wahl mit der Kandidatenaufstellung beschäftigt, hat offensichtlich nichts zu tun. Wir arbeiten Tag für Tag an der Modernisierung unseres Landes und für den Frieden in Europa.

Sie behaupten, Sie machen sich noch keine Gedanken über eine zweite Kanzlerkandidatur?

Baerbock: So ist es.