Kiew. Die Wut ist groß: Ukrainische Soldaten sollen mit mieser Medizinversorgung in den Kampf geschickt worden sein – ein tödliches Risiko.
Der junge Arzt ist aufgebracht. „Das ist nicht nur fahrlässig, das ist ein Verbrechen“, schimpft er. „Ein Tourniquet ist das wichtigste Instrument, um das Überleben von Soldaten zu gewährleisten, die verwundet wurden und kritische Blutungen haben. Und jetzt stellen Sie sich vor, dass 50.000 minderwertige chinesische Tourniquets, die den Druck nicht halten und zum Tod führen können, an die Front geliefert worden sind.“
Ein Tourniquet ist ein Abbindesystem, durch das der Blutfluss in den Venen und Arterien gestaut oder vollständig unterbrochen werden kann. Jeder Soldat hat ein Erste-Hilfe-Köfferchen, in dem sich auch ein Tourniquet befindet. Der Doktor arbeitet in einem Krankenhaus an der Front. Er empört sich über einen Missstand, der derzeit in der Ukraine heftig diskutiert wird. Das Land kämpft auch gegen einen inneren Feind, die Korruption. Möglicherweise hat sie zum Tod von Soldaten geführt.
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Im Krieg erleiden Soldaten häufig Verletzungen an Armen und Beinen, die zu heftigen Blutungen führen. Nicht immer können die Verwundeten sofort aus der Gefechtszone gebracht werden. Um zu verhindern, dass sie verbluten, werden ihnen Abbindesysteme angelegt, eben Tourniquets. Offenbar sind Zehntausende ukrainische Soldaten mit Tourniquets ausgestattet worden, die von minderer Qualität sind – und damit potenziell Leben gefährden.
Soldaten haben Erste-Hilfe-Sets von minderer Qualität erhalten
Vor einigen Wochen wurde in der Ukraine öffentlich, dass zumindest eine wichtige Landungsbrigade mit minderwertigem Material ausgestattet worden ist. Freiwillige und zivilgesellschaftliche Organisationen verfassten daraufhin einen offenen Brief, in dem sie auch einen Mangel an Fahrzeugen für den Transport von Verwundeten kritisieren. Das zentrale Problem aber ist die schlechte Qualität der Tourniquets. Das Überleben eines verwundeten Soldaten hängt zu etwa 90 Prozent davon ab, ob es gelingt, eine kritische Blutung rechtzeitig zu stoppen.
Unserer Redaktion liegen Bilder der Erste-Hilfe-Sets vor, mit denen mehrere Brigaden ausgestattet worden sein sollen. Das berichtet jedenfalls der Arzt aus dem frontnahen Krankenhaus. Da er beim Militär ist, darf sein Name nicht in der Zeitung stehen. Auf den Tourniquets ist der Name des Herstellers vermerkt. Es ist eine Firma aus der chinesischen Provinz Hebei.
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In die Ukraine geliefert wurde das Material über eine Firma mit Sitz in Münster. Man sei der „Europäische Bevollmächtigte“ des chinesischen Unternehmens, teilte der Betrieb auf Anfrage unserer Redaktion mit. Die medizinische Führung der ukrainischen Armee stuft die Qualität der chinesischen Tourniquets allerdings als genauso gut ein wie die aus den USA. Tatsächlich sind sie an der Front so gut wie unbrauchbar. „Sie halten nicht den Druck“, erklärte der Arzt.
Ukrainische Firma hat für die Ware viel Geld kassiert
Die USA seien das einzige Land, das aus Kampferfahrungen gewonnene Daten systematisch für die Weiterentwicklung der Standards sammele, sagte Jurij Kubruschko von der Stiftung Leleka der Internet-Zeitung Ukrajinska Prawda. Die Stiftung beschäftigt sich seit 2014 mit der Versorgung der Einheiten mit taktischer Medizin. Nun kümmert sich das Medizinkommando der ukrainischen Armee um die Erarbeitung von einheitlichen Standards etwa für Tourniquets.
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Besonders brisant ist der Fall aber aus einem anderen Grund: Die Erste-Hilfe-Sets mit den minderwertigen Tourniquets wurden von einer ukrainischen Firma mit Sitz in Winnyzja angeschafft und an das Militär weiterverkauft – angeblich zum gleichen Preis, der für hochwertiges Material aus den USA fällig wird. Der Betrieb gehört der Schwiegertochter von Wolodymyr Prudnikow, der zum Zeitpunkt der Anschaffung der Erste-Hilfe-Sets Leiter der Beschaffungsabteilung des Medizinkommandos im Verteidigungsministerium war.
Die ukrainische Parlamentsabgeordnete Solomija Bobrowska, Mitglied im Ausschuss für nationale Sicherheit, spricht von der hohen Wahrscheinlichkeit „schrecklicher Korruption“ beim ukrainischen Medizinkommando. Bobrowska zufolge hat das Unternehmen der Schwiegertochter Prudnikows allein im ersten Halbjahr 2023 Ausschreibungen in Höhe von umgerechnet 1,6 Millionen Euro gewonnen. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe wurde Prudnikow Anfang August entlassen, ein weiterer für die Einkäufe verantwortlicher Mitarbeiter wurde degradiert.
Bei der Beschaffung gibt es häufig Doppelfunktionen
Doch dem Militärarzt reicht das nicht: „Dieser Mann hat das Leben von 50.000 Soldaten in Gefahr gebracht. Er muss bestraft werden.“ Der Tourniquet-Skandal sei lediglich „die Spitze des Eisbergs“, mutmaßt der Mediziner. Tatsächlich ist fraglich, ob sich die Situation mit der Absetzung des Abteilungsleiters automatisch verbessert. Denn es gibt ein systematisches Problem, welches nicht nur Korruption ermöglicht, sondern schlicht für Chaos sorgt.
Bei der Beschaffung gibt es häufig Doppelfunktionen beim Medizinkommandos und im Verteidigungsministerium – und niemand trägt die finale Verantwortung. Dies soll sich bis Jahresende ändern, versichert Tetjana Ostaschtschenko, Kommandeurin der medizinischen Kräfte. Für die Einkäufe soll dann konkret das Staatsunternehmen „Agentur für Verteidigungsbeschaffungen“ verantwortlich sein.
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Zur gleichen Zeit läuft weiterhin eine andere Debatte: Hochrangige Mitarbeiter der ukrainischen Einberufungsämter sollen ukrainische Männer gegen Bestechungsgelder vom Armeedienst freigestellt haben. So soll sich Jewhen Borissow, Chef des Rekrutierungsbüros von Odessa, um mindestens 4,6 Millionen Euro illegal bereichert haben. Nun läuft eine großangelegte Überprüfung der Einberufungsämter. Bislang wurden bereits mehr als 100 Kriminalverfahren eingeleitet.
Für Freistellungen wurden Bestechungsgelder kassiert
Deswegen entschied sich Präsident Wolodymyr Selenskyj zu einem radikalen Schritt und entließ alle Chefs der Rekrutierungszentren. Diese sollen durch Militärs mit Kampferfahrung ersetzt werden, die aus medizinischen Gründen nicht mehr an die Front zurückkehren können. Der Schritt führte in der Ukraine zu gemischten Reaktionen: Während die Entscheidung zwar grundsätzlich begrüßt wurde, gibt es Zweifel, ob der bloße Wechsel des Führungspersonals das System grundlegend verändern kann.
Dass die Ukraine aber selbst im Krieg ihre Korruptionsprobleme ernst nimmt, zeigt der letzte Bericht der Group of States against Corruption (GRECO) von Ende März. Der Institution gehören alle Staaten des Europarates und die USA an. Während im vorherigen Bericht von 2021 Kiew Rückschritte bei der Korruptionsbekämpfung attestiert wurden, hat GRECO in diesem Jahr die Ukraine von ihrer „schwarzen Liste“ gestrichen. Die Ukraine habe im Krieg teilweise Reformen umgesetzt, die sie vorher fünf Jahre lang bewusst oder unbewusst ignoriert habe, heißt es in dem Papier.
Es bleibt jedoch weiterhin viel zu tun. „Wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen, müssen wir unser Land ändern“, sagt der junge Militärarzt aus dem frontnahen Krankenhaus, der täglich erlebt, welche konkreten und dramatischen Folgen die Korruption haben kann.
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