Kiew. Die Geburtenrate in der Ukraine ist massiv gesunken. Lilia und Pavel haben sich dennoch fürs Kind entschieden – und bereuen nichts.
Draußen zwitschern die Vögel, die Sonne scheint. Drinnen reckt sich ein winziges Baby in seinem Strampler und riskiert einen zaghaften Blick in die Welt. Vier Stunden ist der Kleine gerade einmal alt, hat noch nicht einmal einen Namen. Lilia, seine Muter, streicht behutsam über sein Köpfchen. Sie wisse einfach noch nicht, wie sie ihn nennen solle, sagt sie.
Lilia liegt auf einem Bett in der Geburtsklinik Nummer drei in Kiew. Sichtlich müde ist sie – und glücklich. Ihr Sohn war nicht geplant, sagt Lilia und lacht. Sie hat bereits zwei Kinder. Die 22-Jährige hat eine harte Nacht hinter sich. Die Geburt hätte ja schon gereicht, erzählt sie. Aber zu den Presswehen kam Luftalarm hinzu. Gleich drei Mal hintereinander.
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Jedes Mal heißt es dann für Klinikpersonal und Patienten: alles ab in den Keller. Und zwar rasch. Fünf Minuten dauert der Umzug ins Untergeschoss. Dann wieder rauf, dann aber doch wieder wieder runter, dann wieder rauf, dann noch mal runter. Letztlich hat der kleine Junge doch noch oben das Licht dieser eigenartigen Welt erblickt. Um 6:20 Uhr an einem Donnerstag im Krieg.
Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |
Ukraine: Im Keller der Geburtsklinik ist alles vorbereitet
Seit Beginn der russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat das Klinikpersonal eine gewisse Routine entwickelt. Im Keller sei alles vorhanden, was eine Geburtsklinik braucht, sagt Ljubow Mochalowa. Sie ist Geburts-Ärztin in der Klinik. Doch das mulmige Gefühl bei jedem Luftalarm will auch mehr als 17 Monate nach Kriegsbeginn nicht weichen.
Denn selbst Geburtskliniken gehören offensichtlich zu den Angriffszielen Russlands. Eine Klinik in Cherson hatte die russische Artillerie nach der Rückeroberung der Stadt im November 2022 gleich mehrmals hintereinander beschossen, in Saporischschja wurde eine Geburtsklinik getroffen, in Toretsk ebenfalls – und auch in Kiew, als die Hauptstadt noch belagert war.
Unvergessen ist aber vor allem der massive Angriff auf die Geburtsklinik von Mariupol am 9. März 2022. Es war ein Wendepunkt in diesem Krieg. Das Foto einer jungen, hochschwangeren Frau, die auf einer Trage aus der ausgebombten Gebäude getragen wird, symbolisiert wie kaum ein anderes den Schrecken, den der russische Angriffskrieg für die Zivilbevölkerung bedeutet.
Die Frau, die auf dem roten Tuch mit den schwarzen Punkten liegt, ist Iryna K.. Auf dem Bild hält sie ihre Hand unter ihren Bauch, als wolle sie ihr Kind schützen. Weder sie noch ihr Baby haben überlebt.
„Arina? Maria?“ – die junge Mutter hat noch keinen Namen für ihre Tochter
Die Geburtsklinik Nummer drei in Kiew gilt als relativ sicher. Doch auch hier wirke sich der Stress des Krieges aus, sagt Ruslan Dowgalow. Der Gynäkologe zählt die Komplikationen auf, mit denen die Gebärenden kämpfen: die ständigen Luftalarme, hörbares Flugabwehrfeuer, Explosionen führen öfter zu vorzeitigen Blasensprüngen, Kontraktionen, Blutungen. „Es gibt sehr viel mehr Frühgeburten“, sagt er.
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Valeria, im Zimmer neben Lilia, erzählt, wie sie sich in den vergangenen Wochen mit dem Ertönen der Alarmsirene in den Keller geschleppt hat. „Bei fast jedem Luftalarm“, sagt sie. Sie schüttelt fast ungläubig den Kopf und lässt ein „Pff“ durch die Zähne zischen. Manchmal habe sie es aber einfach nicht mehr geschafft. Sie hebt ihre Tochter vorsichtig aus dem Bettchen, sieht sie an, fragt: „Arina? Maria?“ Sie könne sich nicht entscheiden.
Valeria lächelt müde. Auch sie hat eine lange Nacht hinter sich, musste mehrmals in den Keller. Die Kleine hat kaum geschlafen. Aber jetzt wartet sie auf ihren Mann. Es geht endlich nach Hause.
Das Glück von Lilia und Valeria ist selten geworden. In der Ukraine kommen durch diesen Krieg sehr viel weniger Kinder auf die Welt. Laut jüngsten Zahlen ist die Geburtenrate im ersten Halbjahr 2023 um 28 Prozent eingebrochen. Und die demografischen Aussichten sind eher düster: Laut dem „Ptoukha Institut für demografische Studien“ könnte die Bevölkerung der Ukraine bis 2030 auf 35 Millionen sinken. Aktuell sind es 43 Millionen.
Die Anfrage nach Abtreibungen ist nicht gestiegen
Die Geburtenrate ist dabei nur ein Faktor. Andere sind die Abwanderung überwiegend junger Leute und eine daraus resultierende Überalterung sowie nicht zuletzt auch das schwer angeschlagene ukrainische Gesundheitssystem. 873 Krankenhäuser, Polikliniken oder medizinische Einrichtungen wurden seit Beginn des Angriffskrieges im Februar 2022 beschädigt oder zerstört. Weil immer mehr Ukrainer in den sichereren Westen des Landes umziehen, gerät auch dort die medizinische Infrastruktur an ihre Grenzen.
Was das für die Geburtsklinik Nummer drei in Kiew bedeutet, sagt die Ärztin Ljubow Mochalowa: „Anstatt früher rund zehn Geburten pro Tag sind es heute um die sechs.“ Aber auch die Gewichtung der Fragen, mit denen sie als Medizinerin konfrontiert werde, sei im Krieg eine andere geworden: „Vor allem ist die Nachfrage nach Verhütungsmethoden stark gestiegen“, sagt sie – während die Anfragen für Abtreibungen nicht gestiegen seien. Sie sagt das, als hätte sie anderes erwartet.
Nach eineinhalb Jahren Krieg mit Russland fasst sie die Lage nun so zusammen: „Es gibt Paare, die haben beschlossen, ihr Leben auf Eis zu legen und alle Lebensplanung bis auf weiteres aufgegeben. Es gibt aber auch Paare, die haben beschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen, weiter zu machen und die ihren Stress mit Sex lindern. Und es gibt Leute, die sind ins Ausland gegangen sind.“ Letzteres sind vor allem Frauen. Man wisse ja nicht, ob diese Frauen im Ausland nicht auch Kinder bekämen, sagt Ljubow Mochalowa. Und ob sie vielleicht eines Tages mit ihnen wieder zurück kommen wollen in die Ukraine.
Pavel: „Auf dass er nie in seinem Leben Krieg sieht“
Über den Korridor eilt Pavel mit langen Schritten, einen riesigen Blumenstrauß in der Hand, dann reißt er die Tür auf – und wirft den Strauß sofort in eine Ecke, wo er liegen bleibt und keine Beachtung mehr findet. Er umarmt seine Frau Lilla und beugt sich über seinen Sohn. Das Paar kommt aus der Region Luhansk – genauer aus Sjewjerodonezk, einer Stadt, die es nicht mehr gibt. Sie wurde in diesem Krieg nahezu komplett zerstört.
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Die beiden kennen sich schon eine ganze Weile und hätten lange überlegt, ob es denn schon der geeignete Zeitpunkt sei, um zu heiraten, vielleicht ein Kind zu haben, erzählt Lilla. Und dann habe der Krieg begonnen. „Da haben wir aufgehört zu überlegen“, sagt die junge Mutter. Sich vom Hass anderer am eigenen Leben hindern zu lassen, sei keine Option gewesen. „Wir haben beschlossen, unser Leben zu leben. Wir haben geheiratet.“
Sie macht eine Pause, sieht Pavel an und sagt: „Und jetzt haben wir einen Sohn.“ Er soll Stefan heißen, haben sie beschlossen. „Der Name soll unseren Sohn beschützen“, sagt Pavel. Stefan leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet Krone – oder der Gekrönte. Im übertragenen Sinn also: Sieger oder weiser Mensch. Pavel sagt: „Auf dass er nie in seinem Leben Krieg sieht“. Und immerhin: den ersten Luftalarm hat Stefan verschlafen.
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