Kiew. In Kiew feiern, während Odessa beschossen wird? Für viele Ukrainer undenkbar. Doch es gibt ein Nachtleben – sogar mit russischer Musik.
Dmytro, Mitte 20, ein schlanker junger Mann, verbringt seinen Samstagabend in einer Kiewer Karaoke-Bar. Seine Freundin ist mit dabei – und zwei gemeinsame Freunde. Auf dem Tisch: Eine Flasche Jack Daniel’s. Dmytro arbeitet in der IT-Branche, macht viel Sport. In zwei Wochen beginnt seine Kampfausbildung. Erst danach kann er der Brigade der Nationalgarde beitreten – nicht weil er regulär einberufen wurde, sondern freiwillig. "Es wurde mal Zeit", sagt er. "Irgendjemand muss ja unsere Jungs irgendwann ersetzen." Auch einer seiner Freunde kommt mit.
Vor dem Krieg war die schicke Bar am nördlichen Stadtrand gut besucht, heute herrscht eine seltsame Atmosphäre. Vor Februar 2022 kamen doppelt so viele Gäste, erklärt Kellnerin Natalja Schwidtschenko. Doch Karaoke-Abende halten viele Ukrainerinnen und Ukrainer in Zeiten des Krieges für nicht angebracht. Für andere ist hauptsächlich die nächtliche Sperrstunde ein Problem, die in Kiew zwischen Mitternacht und fünf Uhr gilt. Das heißt: Die Bar muss spätestens um 23 Uhr schließen, damit es die Mitarbeiter noch mit dem Taxi nach Hause schaffen. Der ÖPNV stoppt ebenfalls um 23 Uhr.
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Soldat Dmytro: "Feiern ist ein Zeichen der Freiheit"
Das Nachtleben in Kiew tobt im Moment nur bedingt nachts. Trotzdem sind die Besucherinnen und Besucher der Karaoke-Bar bunt gemischt. Eine Gruppe junger Mädchen feiert einen Geburtstag. Jemand in Militäruniform trinkt an der Bar ein Bier, obwohl der Alkoholverkauf an Soldaten derzeit grundsätzlich verboten ist. Und an einem der Tische sitzt ein mittelaltes Paar. Was die Frau von diesem Tisch später singt, könnte eigentlich für reichlich Konfliktpotenzial sorgen: Denn sie performt die Lieder der legendären russischen Sängerin Alla Pugatschowa. Auch wenn sich Pugatschowa klar gegen den Krieg positioniert, haben die meisten Karaoke-Bars in Kiew alle russische Lieder aus dem Programm gestrichen – aus Gründen der Konfliktprävention.
Dieses Mal bleibt alles ruhig. Ältere russische Songs von Künstlern, die Wladimir Putin ausdrücklich nicht unterstützen, werden wegen der noch immer großen Nachfrage durchgewunken. "Ich bin sicherlich kein Fan der russischen Lieder", erzählt Dmytro. "Aber das hier ist genau das, wofür ich kämpfen möchte – dass die Menschen die Chance zum Feiern haben. Feiern ist ein Zeichen der Freiheit."
Ukraine-Krieg: "So lange kann man doch nicht nur trauern und weinen"
Noch in den Jahren 2014 und 2015, zu Beginn des Donbass-Krieges, erlebten die meisten Soldaten beim Heimaturlaub in Kiew oder tief im Hinterland eine große Frustration – der Krieg war so gut wie gar nicht spürbar, das normale Leben verlief wie immer. Das hat viele geärgert. Diesmal ist das anders. Soldaten wie Dmytro haben Verständnis für das Bedürfnis der Menschen nach Normalität. "Der große Krieg dauert fast schon anderthalb Jahre", sagt er. "So lange kann man doch nicht nur trauern und weinen." Trotzdem könne er Menschen verstehen, die das anders empfinden. "Vielleicht sehe ich das selbst auch anders, wenn ich zum ersten Mal von der Front für ein paar Tage zurückkehre."
Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |
International wurde Kiew in den vergangenen Jahren immer bekannter für seine Club- und Technoszene. Einige Clubs im historischen Stadtteil Podil erhielten europaweit Kultstatus. Zum Geheimtipp wurde die ukrainische Hauptstadt spätestens 2017, als die EU die Visapflicht für Ukrainerinnen und Ukrainer aufhob. Es kamen immer mehr Flüge von Billig-Airlines aus allen Ecken Europas an. Für einen entscheidenden Boom hat sorgte die Corona-Krise: Die Quarantäne-Maßnahmen in der Ukraine waren zwar auf dem Papier vergleichbar streng wie die Regeln in Deutschland. Doch es wurde viel öfter ein Auge zugedrückt – was zur Folge hatte, dass auch in Flugzeugen aus Berlin regelmäßig mehr deutsche Party-Touristen saßen als Menschen aus der Ukraine.
Kiew: Clubs spenden einen Teil der Einnahmen an Armee
Mitten im Krieg kommen kaum noch Ausländerinnen und Ausländer in die Clubs. Nur wenige trauen sich den langen Weg mit dem Bus oder Zug nach Kiew zu, die Stadt steht trotz effektiven Flugabwehr ständig unter russischem Drohnen- und Raketenbeschuss. "Ich merke aber, dass unsere früheren lokalen Stammgäste immer öfter kommen", berichtet Barfrau Oleksandra in einem Club in Podil. "Für viele war es anfangs ein moralisches Dilemma: Tanzen zu gehen im Krieg ist ja nicht gerade ein Restaurantbesuch, sondern etwas Umstrittenes. Dieser Krieg ist aber ein Marathon – und die Menschen müssen auch mal abschalten. Außerdem spenden wir einen Teil der Einnahmen an die Armee, das versteht sich von selbst."
Viele Menschen in Kiew machen dennoch weiter einen Unterschied zwischen Restaurant- und Clubbesuch. Die Cafés und Restaurants der Stadt, in der wieder mehr als drei Millionen Menschen leben, sind fast so voll wie vor dem Krieg. Dem Club in Podil, aber auch der Karaoke-Bar am Stadtrand, fehlen an einem regulären Wochenende dagegen rund die Hälfte der Besucherinnen und Besucher. Immerhin: Die Stimmung ist gut. In den Gesprächen an der Bartheke oder draußen beim Rauchen geht es auch mal um aktuelle Kinofilme wie "Barbie" und "Oppenheimer". Doch der Krieg ist allgegenwärtig – auch wegen des russischen Beschusses von Odessa.
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"Mir tut Odessa wirklich leid", sagt Mychajlo, Anfang 30. "Wir hatten im Mai und Juni auch eine schreckliche Welle der Nachtangriffe und haben kaum geschlafen. Aber hier gibt es sehr gute Flugabwehrsysteme – die hat Odessa nicht." Ob er trotzdem tanzen könne, während zur gleichen Zeit ukrainische Städte beschossen werden? "Ich versuche, darüber nicht nachzudenken", sagt Mychajlo. "Was bleibt uns denn übrig? Vielleicht werde ich bald eingezogen, vielleicht erst etwas später. Aber die Zeit dazwischen kann mir niemand ersetzen."
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