Vilnius/Brüssel. Nato-Analysten sind sicher: Die Bedrohung durch Russland wird wachsen, auch wegen neuer Superwaffen. Das ist die Antwort des Westens.

Nach 16 Monaten des russischen Angriffskriegs in der Ukraine warnen führende Militärs der Nato vor einer gefährlichen Selbsttäuschung des Westens: Im Augenblick scheint die russische Armee zwar geschwächt – doch die Annahme, Russland sei für den Westen keine Bedrohung mehr, sei ein gefährlicher Irrtum, heißt es in der Nato-Spitze im militärischen Hauptquartier im belgischen Mons.

Solange Präsident Wladimir Putin oder gleichgesinnte Nachfolger im Kreml sitzen, werde ein aggressives, mit Atombomben drohendes Russland bald sogar noch deutlich gefährlicher. Die alarmierende Analyse lag den Staats- und Regierungschefs der 31 Nato-Staaten beim Gipfeltreffen in Vilnius vor. Auf dem Tisch lag dort aber auch ein weit fortgeschrittener Plan zur Antwort des Westens – eine kleine Revolution der bisherigen Nato-Strategie, die der Gipfel bestätigte.

Russland bleibt eine gewaltige und unkalkulierbare Bedrohung“, erklärt Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli, ein amerikanischer Vier-Sterne-General, der in Mons das Supreme Headquarters Allied Powers Europe (Shape) führt. „Die strategischen Streitkräfte Russlands haben im Krieg keine nennenswerte Verschlechterung erlitten“, sagt Cavoli.

Darum machen Russlands neue Superwaffen dem Westen Sorge

Zwar erleide die Armee in der Ukraine Rückschläge, Verluste an Soldaten und Ausrüstung. „Aber sie verfügen immer noch über erhebliche Fähigkeiten, und sie werden sich erholen.“ Die russische Luftwaffe sei mit über tausend Kampfflugzeugen und Bombern weitgehend intakt, ebenso wie die Marine. Hinzu komme, dass die russische Militärführung in der Ukraine wertvolle Erfahrungen mit einem modernen, konventionellen Krieg sammele, heißt es.

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„Sie werden ihre Lektionen schnell lernen. Wir sollten sie niemals unterschätzen“, sagt ein ranghoher Nato-General. Der riesige Bestand an Atomwaffen in Russland bleibe ohnehin eine „existenzielle Bedrohung“, Putins gefährliche Nuklearrhetorik führe zu strategischer Unsicherheit, erklärt Oberbefehlshaber Cavoli. Die große Sorge: Binnen weniger Jahre werde ein aggressives Russland, ohne Rücksicht auf frühere Rüstungskontrollabkommen, die Armee nicht nur auf den alten Stand bringen, sondern sogar zu einer größeren und leistungsfähigeren Landstreitmacht ausbauen, sagt Cavoli voraus.

Eine russische Iskander-K-Rakete, die während einer Militärübung auf einem Truppenübungsplatz abgeschossen wird. Bei einem russischen Angriff könnten diese Raketen auch Atomsprengköpfe auf Ziele in Westeuropa tragen.
Eine russische Iskander-K-Rakete, die während einer Militärübung auf einem Truppenübungsplatz abgeschossen wird. Bei einem russischen Angriff könnten diese Raketen auch Atomsprengköpfe auf Ziele in Westeuropa tragen. © dpa | Uncredited

Dazu gehöre ein militärisches Modernisierungsprogramm mit neuen Technologien, das dem Westen Sorgen machen müsse. Cavoli nennt sechs Waffensysteme, die Putin als „Superwaffen“ angekündigt hat und die entweder schon einsatzbereit sind oder bald sein dürften: Avangard, eine Hyperschall-Gleitwaffe, die Atombomben aus hundert Kilometer Höhe in mehrfacher Schallgeschwindigkeit und mit unberechenbarem Kurs ins Ziel trägt. Die Langstreckenrakete Sarmat, die neue atomgetriebene Mittelstreckenrate Burewestnik sowie die Hypersonic-Raketen Kinschal und Tsirkon.

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Poseidon: Unterwasser-Drohne könnte radioaktiven Tsunami auslösen

Die Poseidon, eine atomgetriebene Unterwasser-Drohne mit Atom-Sprengköpfen, könnte von U-Booten abgeschossen werden, wäre schwer zu bemerken und könnte einen radioaktiven Tsunami auslösen, der Küstenstädte zerstören und Millionen Todesopfer fordern würde. Westliche Experten hielten das anfangs für eine Propaganda-Erfindung, inzwischen gilt die Entwicklung von Poseidon als weit fortgeschritten.

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„Diese Waffen sind eine asymmetrische Bedrohung für die Nato und eine Herausforderung für unsere Raketenabwehr“, sagt Cavoli. Militäranalysten fürchten, allein die Drohung mit neuen Waffen wie Poseidon könne den Westen erpressbar machen, wenn Russland etwa einen neuen Angriff auf die Ukraine oder Georgien beginnen sollte. Oder wenn es gar in östlichen Nato-Staaten einmarschiert – den Ländern im Baltikum sprechen Kreml-Propagandisten ja schon das Existenzrecht ab.

Wladimir Putin bleibt eine Bedrohung für die NATO – und insbesondere für die Staaten des Baltikums.
Wladimir Putin bleibt eine Bedrohung für die NATO – und insbesondere für die Staaten des Baltikums. © AFP | Gavriil Grigorov

Derzeit wäre die Allianz nicht in der Lage, einen Angriff von Anfang an abzuwehren, Putins Armee könnte laut den Analysen in wenigen Tagen die Hauptstädte Riga und Tallinn erreichen. Die relativ kleine Nato-Präsenz in Litauen, Lettland und Estland ist nur als „Stolperdraht“ zur Verzögerung gedacht. Wenn dann größere Nato-Truppen eintreffen, müssten sie die Invasoren erst wieder aus dem Land drängen. Spätestens seit den Gräueltaten der russischen Armee in Butscha und anderen ukrainischen Staaten fürchten die Balten, dass sie bis dahin einen hohen Blutzoll bezahlen müssten.

Russische Bedrohung: Mit dieser Strategie antwortet die Nato

Beim Gipfel untermauerte die Allianz daher einen Strategiewechsel, der Russland glaubwürdig abschrecken soll: Wie im Kalten Krieg will die Nato in der Lage sein, einen Angreifer sofort zurückzuschlagen. Dazu segnete der Gipfel umfassende regionale Verteidigungspläne ab für die gesamte Ostgrenze von der Arktis bis zur Türkei. Für drei Regionen – den Norden mit Atlantik, Mittel- und Zentral-Europa und die Region um Mittelmeer und Schwarzes Meer – hat Cavoli detaillierte Pläne ausgearbeitet, vorgesehen ist auch ein Hauptquartier für jede Region. Insgesamt 4000 Seiten, streng geheim.

Im nächsten Schritt wird für die Armeen jedes Nato-Staates, auch für die Bundeswehr, ein genaues Einsatzgebiet und die militärische Aufgabe im Ernstfall festgelegt. „Wir machen die Nato von einer Allianz, die auf out-of-area-Einsätze optimiert ist, zu einem Bündnis, das in großen Operationen jeden Zentimeter des Bündnisgebietes verteidigen kann“, sagt Cavoli.

Nato-Gipfel in Vilnius. In diesem Sitzungssaal beschlossen die Staats- und Regierungschef die neuen Verteidigungspläne.
Nato-Gipfel in Vilnius. In diesem Sitzungssaal beschlossen die Staats- und Regierungschef die neuen Verteidigungspläne. © Getty Images | Pool

Solche Pläne gab es auch im Kalten Krieg – nur verfügte die Nato damals über weit größere Armeen für eine viel kürzere Front im Osten. Jetzt ist Flexibilität gefragt und ein neues Alarm-System, um auf russische Truppenbewegungen rechtzeitig reagieren zu können. „Diese Pläne erfordern eine neue Streitkräftestruktur“, sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Mehr Truppen, die schneller einsatzbereit und mit ihrem Kampfgebiet in Osteuropa durch Übungen vertraut sind: Insgesamt werden 300 000 Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft gehalten – 100.000 sollen binnen zehn Tagen an die Front verlegt werden können, die anderen innerhalb von vier Wochen.

Deutschland will sogar eine Brigade mit 4000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren. Die baltischen Staaten reagierten in Vilnius erleichtert: Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas sprach von einer „sehr wichtigen Entscheidung“: „Das bedeutet, dass wir wirklich bereit sind, unser Land vom ersten Zentimeter an, vom ersten Moment an zu verteidigen“.

Nato-Gipfel verschärft das 2-Prozent-Ziel für Verteidigungsausgaben

Doch die Strategie verlangt bessere Verkehrswege, um Truppen schnell nach Osteuropa zu bringen. Das ist schon in Friedenszeiten ein Problem: Es fehlen Eisenbahn-Waggons für den Panzer-Transport, tragfähige Brücken, ausreichend Schienenwege. Die Fehler der Russen im Ukraine-Krieg, denen beim ersten Angriff schnell der Treibstoff für ihre Panzer ausging, hätten die entscheidende Bedeutung der Logistik schon nach wenigen Tagen belegt, sagt Admiral Rob Bauer, Chef des Nato-Militärausschusses.

Aber auch für die Rüstungsbeschaffung hat die Strategie Konsequenzen: Schnell gestärkt werden sollen jetzt vor allem die Luft- und Raketenabwehr sowie die weitreichende Artillerie – eine Lehre aus dem aktuellen Krieg. Die gemeinsame Beschaffung von Waffen und Munition soll beschleunigt werden.

Um alle Verteidigungspläne in den nächsten Jahren zu realisieren, müssen die Nato-Staaten deutlich mehr in militärische Fähigkeiten investieren. Der Gipfel verschärfte deshalb die alte Verabredung der Bündnis-Mitglieder, spätestens ab 2024 zwei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben: Das Zwei-Prozent-Ziel soll künftig nur das Minimum markieren, höhere Ausgaben sind dringend erwünscht.

Allein, selbst das Minimum erreichen in diesem Jahr nur elf der 31 Nato-Staaten, Deutschland gehört trotz des neuen Sondervermögens nicht dazu. Aber mit der neuen Verteidigungsplanung bekommt die Nato ein Druckmittel, um höhere Ausgaben von den Regierungen einzufordern. Stoltenberg sagte, alle Mitglieder hätten zugesagt, dringend mehr zu tun, um ihre Verpflichtungen zu erfüllen.