Schwerin. In Schwerin könnte ein AfD-Politiker Bürgermeister werden. Die Partei drängt zur Macht – und oft beschworene Brandmauern bröckeln.

  • In Schwerin entscheidet heute die Stichwahl, wer die Stadt künftig als Bürgermeister regiert
  • Dabei tritt Amtsinhaber Rico Badenschier (SPD) gegen AfD-Herausforderer Leif-Erik Holm an
  • Wird erstmals ein Politiker der "Alternative für Deutschland" Bürgermeister einer Landeshauptstadt?

Zur Not, sagt Leif-Erik Holm, komme er auch zu der älteren Frau mit Rollator nach Hause, fahre sie ins Wahllokal. „Ich hole Sie persönlich ab“, bietet Holm an. Die alte Dame mit Bluse und Goldkette am Hals lächelt verlegen. „Das wollen Sie machen?“, fragt sie mit leiser Stimme. Dann winkt sie lieber ab.

Hier, vor dem Lebensmittelmarkt in der Schweriner Weststadt, kämpft Holm um Stimmen. Seine Partei, die AfD, hat einen Stand aufgebaut, Mitglieder sind aus Rostock angereist, helfen, verteilen Kugelschreiber, Bierdeckel mit Partei-Logo und Flyer. „Holm wählen!“, steht dort. Die Schlagworte sind: „Sicheres Schwerin, gute Arbeit, Aufnahmestopp“. Hier am Info-Stand spricht Holm viel über „illegale Migration“, über Jugendarbeitslosigkeit und einen „Anstieg der Gewalt“ in der Stadt. „Das hatten wir früher nicht.“

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Der Info-Stand in blau und rot ist an diesem heißen Juni-Mittwoch ein Magnet der Wut. Menschen mit Einkaufstüte halten kurz an, sagen, dass „sich endlich was ändern muss“. Vieles werde teurer, die Butter sei schon mal bei 3,49 Euro gewesen, nichts passiere. Und Spielplätze? „Viel zu wenig.“ Ausländerinnen und Ausländer gebe es dagegen zu viele. Holm nickt zu fast allem, was ihm an Ärger und Angst begegnet. Oft bestärkt er die Passantinnen und Passanten. Er widerspricht, als eine Frau über verfälschte Wahlergebnisse in Deutschland spekuliert.

Wahlkampf in Schwerin, Deutschlands kleinster Landeshauptstadt: Der SPD-Amtsinhaber, Rico Badenschier, tritt gegen den Kandidaten der AfD an.
Wahlkampf in Schwerin, Deutschlands kleinster Landeshauptstadt: Der SPD-Amtsinhaber, Rico Badenschier, tritt gegen den Kandidaten der AfD an. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Leif-Erik Holm ist Spitzenkandidat zur Oberbürgermeisterwahl in Schwerin. Und er steht in der Stichwahl – gegen den Amtsinhaber der SPD, Rico Badenschier. In Deutschlands erster Landeshauptstadt kratzt die AfD ernsthaft an der Tür zur Macht – auch wenn der SPD-Politiker deutlich bessere Chancen hat, den Posten erneut zu gewinnen. Nach Schwerin kommen in diesen Tagen viele Reporter aus ganz Deutschland, gerade begleitet auch eine französische Journalistin den AfD-Politiker am Info-Stand, vor einigen Wochen war eine große Zeitung aus England in der Stadt.

Doch nicht nur Schwerin steht im Fokus: Der Landkreis Sonneberg in Thüringen machte Schlagzeilen, weil der dortige AfD-Kandidat bei der Landratswahl nur knapp unter 50 Prozent lag. Auch dort gibt es eine Stichwahl (25. Juni) – und anders als in Schwerin sieht es in Sonneberg für die AfD sehr gut aus.

Bald in der Hand der AfD? Das Landratsamt im Zentrum im thüringischen Sonneberg.
Bald in der Hand der AfD? Das Landratsamt im Zentrum im thüringischen Sonneberg. © dpa | Bodo Schackow

Schon 2019 musste in Görlitz ein Bürgermeister der CDU gegen die AfD in die Stichwahl. Nun häufen sich die Meldungen, die Ergebnisse der AfD sind teilweise hoch. Im thüringischen Örtchen Moxa wurde ein AfD-Mitglied im Januar zum ersten Bürgermeister gewählt. Landeschef und Rechtsextremist Björn Höcke gratulierte zum „beeindruckenden Vertrauensbeweis“. Im brandenburgischen Oder-Spree-Kreis kam ein AfD-Mann in der Stichwahl auf 48 Prozent, scheiterte nur knapp.

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Seit zehn Jahren gibt es die AfD. Vor allem in Ostdeutschland ist sie heute stark, vor allem auf dem Land. Rechte und extrem rechte Parteien und Gruppierungen breiten sich im Osten aus. Der neurechte Ideologe Martin Sellner schreibt in der Szene-Zeitschrift „Sezession“ von der „Basis“ und dem „Machtzentrum“ der Bewegung im Osten. Doch ausreichend Stimmen, um in Ämter und Parlamente zu kommen, hat vor allem die AfD. Und dort sieht man eine Chance, eine „neue Phase“. Die Partei dürfe nicht mehr nur „Protest“ sein. Sie müsse auch „Verantwortung“ übernehmen, sagt Holm.

Oberbürgermeister-Stichwahl in Schwerin. Viele Menschen wollen sich auf Nachfrage nicht zu Politik äußern, sind wütend oder verdrossen. Wählen sie am Ende AfD?
Oberbürgermeister-Stichwahl in Schwerin. Viele Menschen wollen sich auf Nachfrage nicht zu Politik äußern, sind wütend oder verdrossen. Wählen sie am Ende AfD? © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Die AfD will nach der Macht greifen – eine Partei, die beim Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall gilt. Deren Jugendorganisation ebenfalls als Verdachtsfall Rechtsextremismus beim Inlandsgeheimdienst geführt ist. Eine Partei, in der Politiker immer wieder mit hetzerischen Parolen auffallen. Gegen Björn Höcke, den Thüringer Landeschef, wurde nun Anklage erhoben wegen der mutmaßlichen Verwendung von NS-Vokabular. Im Gespräch wird sich der Schweriner AfD-Mann Holm nicht von Höcke distanzieren, spricht nur von „falschen Aussagen“, die es gegeben habe.

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Schwerin: Im ersten Wahlgang holte der SPD-Mann 42 Prozent der Stimmen

Nun könnte die AfD in der kleinsten deutschen Landeshauptstadt ins höchste Amt kommen. Jedenfalls glauben Holm und ihre Mitstreiter am Info-Stand in Schwerin daran. Holm kam im ersten Wahlgang auf 27 Prozent, ließ Grüne und den konservativen Kandidaten weit hinter sich. Nun setzt er auf Nicht-Wähler. Auf die Verdrossenen, Resignierten, die Wütenden.

Der Mann, der einen AfD-Sieg in Schwerin noch verhindern kann, ist Rico Badenschier. Er kurvt mit dem Rad entlang des Pfaffenteichs, gerade wollte er Blut spenden, jetzt zurrt er sein weißes Hemd zurecht. Badenschier arbeitete lange als Radiologe an einer großen Klinik in Schwerin. 2016 gewann er überraschend die Wahl zum Oberbürgermeister. Nun holte er im ersten Wahlgang 42 Prozent. Ein satter Vorsprung.

Liegt in den Umfragen deutlich vorne: SPD-Oberbürgermeister Rico Badenschier.
Liegt in den Umfragen deutlich vorne: SPD-Oberbürgermeister Rico Badenschier. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Doch im Moment ärgert ihn, dass es nur noch um die AfD gehe. „Der Kandidat der AfD bekommt Platz in den Medien, auch international. Herr Holm wird zu seinen Themen befragt, und ich werde zu der AfD befragt.“ Gerne würde Badenschier über die 1000 neuen Kita-Plätze sprechen, die er geschaffen habe. Über seinen Plan für Schwerin, bis 2029 schuldenfrei zu sein. Über die Bewerbung für das Weltkulturerbe, die vor Jahren kaum jemand für möglich gehalten habe.

Reden muss Badenschier aber vor allem über die AfD. Schwerin sei für die AfD eine „Generalprobe“, sagt Politikwissenschaftler Wolfgang Muno von der Universität Rostock. Im kommenden Jahr stehen Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen an. In Thüringen und Sachsen liegt die AfD in Umfragen vorne, in Brandenburg gleichauf mit der SPD.

Aus der Spitze der CDU kommt die klare Ansage: Kein Pakt mit der AfD. Hält das?

Und so wird Schwerin auch eine Generalprobe für die „Brandmauer gegen rechts“. Das Versprechen der Parteien, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten oder gar Koalitionen zu schmieden. Die Beteuerungen sind laut, noch jedenfalls. Aus der Spitze der CDU kommt die klare Ansage: Kein Pakt mit der AfD. Auf Nachfrage heißt es auch aus mehreren FDP-Landesverbänden, man schließe eine „politische und inhaltlich parlamentarische Zusammenarbeit mit der AfD“ aus.

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Zeitgleich mit diesen Bekenntnissen machen Meldungen die Runde: In Sachsen-Anhalt soll der CDU-Fraktionsvize mit der AfD über die Wahl eines Amtes im Geheimen verhandelt haben. Die Partei weist die Vorwürfe zurück. In Schwerin sprachen sich die chancenlosen Grünen in der Stichwahl für die SPD aus, um AfD-Mann Holm zu verhindern. Der Kreisverband der FDP tat das nicht, hebt nur hervor, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen sei. 2020 ließ sich Thüringens FDP-Mann Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten küren – und löste eine Partei-Krise aus.

Die Grünen rufen jetzt zur Wahl von Oberbürgermeister Badenschier auf. Die FDP enthält sich mit einer Wahlempfehlung.
Die Grünen rufen jetzt zur Wahl von Oberbürgermeister Badenschier auf. Die FDP enthält sich mit einer Wahlempfehlung. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Die Allianz gegen die AfD stehe noch, aber sie bröckele bereits an der ein oder anderen Stelle, sagt Wissenschaftler Muno, und der Druck steige, „es gibt immer wieder Diskussionen über mögliche Kooperation mit der AfD, insbesondere in der CDU und der FDP, mit jeder weiteren guten Umfrage und mit jedem guten Wahlergebnis der AfD“. In Thüringen und Sachsen noch deutlich mehr als in Schwerin.

Auch Oberbürgermeister Badenschier ist besorgt. „Die Brandmauer gegen rechts steht nicht mehr überall.“ In Schwerin, erzählt der SPD-Mann, habe der AfD-Kandidat bei der Besetzung des Gremiums, das die Schöffen wählen soll, 21 von 45 Stimmen erhalten. „Stadtvertreter auch aus anderen Parteien haben für den AfD-Mann gestimmt.“

„Ein Beben“ werde am Sonntag in die Republik ausgehen, sagt AfD-Wahlkämpfer

Wer mit Menschen in der Schweriner Innenstadt spricht, hört viel Ärger. Viele Sorgen. Krieg in der Ukraine, die teuren Preise, die Energiekrise. Viele winken ab, wenn man sie auf die Politik anspricht. Einem Mann ist es peinlich, dass die AfD in die Stichwahl kommt, eine Frau hält es für gefährlich. Eine andere sagt, dass sie die AfD wählen werden. Weniger wegen der AfD, sondern eher, weil sie genug von „den anderen Parteien“ habe. Und so bleibt ein Risiko für SPD-Bürgermeister Badenschier.

AfD-Mann Holm will das nutzen. „Ein Beben“ werde am Sonntag in die Republik ausgehen, sagt einer am Wahlkampf-Stand vor dem Supermarkt in der Weststadt. Holm spricht lange mit der Frau mit dem Rollator, es geht um die Lage der Senioren im Land, ihre Schmerzen im Arm, und irgendwann um ihre eigene Lebensgeschichte. Ob sie denn nun von ihm abgeholt werde zur Wahl? „Sie ist sich noch nicht sicher“, sagt Holm.