Athen/Berlin. Ein Schiff voller Geflüchteter sinkt im Mittelmeer. Die Menschen hatten Unsummen für ein Ticket bezahlt – und ihr Leben verloren.
Der verrostete Fischkutter war völlig überfüllt. Dicht an dicht standen, lagen, saßen Kinder, Frauen, Männer auf und unter den Decks. Sie hofften auf ein besseres Leben, die meisten aber fanden den Tod, als das Schiff vor der griechischen Halbinsel Peleponnes kenterte.
104 Menschen konnten gerettet werden, 78 Leichen wurden bislang aus dem Wasser geborgen. Die Küstenwache Griechenlands schätzt, dass mindestens 500 Menschen auf dem Boot gewesen sein könnten – laut der britischen BBC könnten sogar bis zu 750 Menschen an Bord gewesen sein. Darunter offenbar viele Kinder. Zwei Tage nach dem Unglück besteht kaum noch Hoffnung, Überlebende zu finden. Sie sind verschollen im Massengrab Mittelmeer. Die Suche nach ihnen wird fortgesetzt.
Was ist passiert?
Schlepper hatten die Menschen in Tobruk an der Küste von Libyen aufgenommen und versprochen, sie nach Italien zu bringen. Die griechische Regierung schildert den Ablauf der Tragödie so: Die italienischen Behörden hatten am Dienstagvormittag das überfüllte Schiff gesichtet und Griechenland informiert. Um 15 Uhr entdeckte ein Hubschrauber der griechischen Küstenwache den Kutter. Von da an begleiteten unter anderem Patrouillenboote der Küstenwache.
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Um 18.30 gelang es der Küstenwache, Kontakt mit dem Kapitän aufzunehmen. Der lehnte Hilfe ab und erklärte, er wolle seine Fahrt nach Italien fortsetzen. Auch vorbeifahrende Frachter hätten Hilfe angeboten, was die Passagiere aber abgewiesen hätten. Alarm Phone, eine Organisation, die Hilferufe von Migrantenschiffen aufnimmt, erklärte hingegen, Passagiere hätten verzweifelt um Hilfe gebeten. Eine Stunde später ging nach Angaben der Regierung ein Schiff der Küstenwache längsseits und lieferte den Menschen Wasser und Lebensmittel.
Schiffe der Küstenwache eskortierten das Migrantenboot, um im Notfall helfen zu können. Um 1.40 Uhr meldete der Kapitän einen Maschinenschaden. 20 Minuten später bekam das Schiff starke Schlagseite, kenterte und sank schnell. Offenbar hatten viele keine Chance zu überleben, weil sie unter Deck waren. Dort sollen sich vor allem Frauen und Kinder aufgehalten haben. Griechenland hat Staatstrauer ausgerufen. Die Staatsanwaltschaft des Obersten Gerichtshofes ordnete eine Untersuchung des Unglücks an.
Wie viele Menschen waren an Bord?
Hilfsorganisationen berichteten unter Berufung auf Telefonate und Textnachrichten, die vor der Havarie von dem Boot eingingen, von bis zu 750 Insassen. Fachleute halten es für möglich, dass man auf einem rund 30 Meter langen Fischkutter rund 700 Menschen zusammenpferchen kann. Man habe das bereits erlebt, sagte Nikos Spanos, pensionierter Admiral der Küstenwache, im Fernsehen. „Seetüchtig sind solche Boote dann natürlich nicht mehr“, so Spanos. „Eigentlich handelt es sich um schwimmende Särge.“
Was macht die Suche nach Toten und Vermissten so schwierig?
Das Schiff sank an einem der tiefsten Punkte im Mittelmeer: dem Calypso-Graben, einer Tiefseesenke im Südosten des Ionischen Meeres. Dort beträgt die Tiefe bis zu 5200 Meter, die Bergung von Leichen und Schiff könnte an dieser Stelle fast unmöglich sein.
Was weiß man über die Geflüchteten?
Viele der Geflüchteten sollen 20- bis 30-jährige Männer sein und nach unbestätigten Medienberichten vor allem aus Ägypten, Syrien, Pakistan, Afghanistan sowie den Palästinensergebieten stammen.
Was geschieht mit den Überlebenden?
Sie kommen in ein Flüchtlingslager nahe Athen. Auch die geborgenen Leichen werden in die griechische Hauptstadt gebracht, um sie dort zu identifizieren.
Was weiß man über die Schleuser?
Einen Tag nach dem schweren Bootsunglück hat die griechische Küstenwache neun Überlebende festgenommen. Sie sollen als Schleuser agiert haben. Wie der staatliche Rundfunk (ERT) am Donnerstagabend berichtete, wird den aus Ägypten stammenden Männern unter anderem die Bildung einer kriminellen Organisation vorgeworfen. Überlebende Migranten berichteten, die Schleuser hätten für die geplante Überfahrt von Libyen nach Italien pro Passagier 6500 Dollar kassiert. Bei 750 Passagieren hätte die Fahrt den Schleusern fast fünf Millionen Dollar eingebracht. Die EU hat den Kampf gegen Schleuserkriminalität intensiviert – mit mäßigem Erfolg.
Über welche Route kommen die Menschen?
Derzeit nutzen sie vor allem die gefährliche Mittelmeer-Route. Nach UN-Angaben sind 2023 bisher rund 72.000 Flüchtlinge und Migranten in den Mittelmeeranrainern Italien, Spanien, Griechenland, Malta und Zypern angekommen, die meisten davon an der italienische Küste. Die große Mehrheit kommt nach Angaben der EU über Libyen nach Europa. Dies hat dazu beigetragen, dass in Libyen gut etablierte und widerstandsfähige Schleuser- und Menschenhändlernetze entstanden sind.
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Aber auch aus Tunesien stechen seit Jahresbeginn immer mehr Boote mit Migranten nach Italien in See. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben 2023 auf den Routen aus dem Nahen Osten und Nordafrika fast 3800 Menschen, davon 2761 auf See. Die IOM schätzt, dass seit 2014 im Mittelmeer mehr als 20.000 Menschen beim Untergang von Schleuserbooten ertrunken sind. Die Dunkelziffer könnte aber erheblich höher sein, da viele Havarien nicht entdeckt werden.
Nimmt die Zahl der Flüchtlinge zu?
Ja. Sehr stark sogar. Nach neuesten UN-Zahlen sind derzeit weltweit fast 110 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Verfolgung und Armut. Noch nie seit der Erhebung des UN-Berichts „Global Trends“ ist die Zahl der Geflüchteten so stark angestiegen – fast 20 Millionen Menschen mehr als Ende 2021, zwei Drittel von ihnen sind Binnenflüchtlinge.
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