Berlin. Der Judenhass an Schulen wächst, die Gewalt nimmt zu: Der Antisemitismus-Beauftragte Klein sieht Verfehlungen auch bei den Lehrern.

Felix Klein ist alarmiert: Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung beobachtet, dass in Deutschland die Hemmschwelle für antisemitische Gewalttaten sinkt – „bis hin zum Terrorismus“. Ursachen für die wachsende Judenfeindschaft findet er auch in deutschen Klassenzimmern.

Der Krieg, die Inflation – facht die Krise auch den Judenhass an?

Felix Klein: In Zeiten von Krise und Unsicherheit werden die Leute anfälliger für irrationale Erklärungsmuster. Wenn Menschen Schwierigkeiten sehen, ihre Rechnung für Strom und Gas zu bezahlen, wird schnell nach einem Schuldigen gesucht. Ein gängiges Erklärungsmuster sind Verschwörungsmythen mit einem antisemitischen Kern. Wir sehen in Deutschland auch pro-russische Demonstrationen, auf denen sich die Teilnehmer einen Judenstern anheften - in russischen Farben, mit der Aufschrift: „Morgen wir?“ Das Leid der Juden im Nationalsozialismus wird instrumentalisiert.

Wer ist besonders anfällig für Antisemitismus?

Klein: Antisemitismus zieht sich quer durch alle Bevölkerungsteile. Er ist bis in die Mitte der Gesellschaft vorhanden, auch in gebildeten Kreisen. Eine neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung zeigt, dass Antisemitismus viel zu häufig als Randphänomen verstanden wird. Er findet sich aber nicht nur im Rechtsextremismus oder im Islamismus, sondern auch in progressiven Milieus, im Kunst- und Kulturbetrieb. Die Ausstellung antisemitischer Kunst auf der Documenta in Kassel hat gezeigt, dass Judenhass in diesen Kreisen verharmlost wird. Das macht mir große Sorgen.

Was genau fürchten Sie?

Klein: Die Verharmlosung von Antisemitismus führt direkt dazu, dass die Hemmschwelle für antisemitische Gewalttaten sinkt - bis hin zum Terrorismus. Ein Beispiel ist der Attentäter von Halle. Er hat im Netz antisemitische Darstellungen gesehen, sich radikalisiert und einen rechtsterroristischen Anschlag begangen. Der Mann hatte Bilder im Kopf, wie sie auch auf der Documenta zu sehen waren: Juden als Schweine, Juden als Kinderquäler.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagt: Die Verharmlosung von Antisemitismus führt direkt dazu, dass die Hemmschwelle für antisemitische Gewalttaten sinkt.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagt: Die Verharmlosung von Antisemitismus führt direkt dazu, dass die Hemmschwelle für antisemitische Gewalttaten sinkt. © Funke Foto Service | Reto Klar

Können Sie belegen, dass es einen direkten Zusammenhang gibt?

Klein: Die Kriminalstatistik gibt einen klaren Hinweis. Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten ist im vergangenen Jahr von 64 auf 88 gestiegen. Auch das hat mit dieser Verharmlosung von Antisemitismus zu tun.

Haben Sie ein Gegengift?

Klein: Polizei und Justiz müssen noch besser in die Lage versetzt werden, Antisemitismus zu erkennen und sicherzustellen, dass solche Taten schnell zu Konsequenzen führen. Das Ergebnis ist leider oftmals sehr dürftig. Antisemitische Straftaten werden zu wenig sanktioniert. Häufig wird erst in extremen Fällen wie NS-Propaganda gehandelt und viel zu selten erkannt, wenn der Holocaust geleugnet oder relativiert wird.

Also was tun?

Klein: Polizei und Justiz müssen in systematischen Schulungen stärker sensibilisiert werden, dass Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit nicht unendlich weit gehen. Sie können eingeschränkt werden, wenn etwa auf einer Veranstaltung volksverhetzende Inhalte gezeigt werden. Ich finde, der Staat darf gegenüber derartiger Intoleranz nicht tolerant sein. Die Polizei muss eine Demonstration auflösen, wenn „Tod den Juden“ oder „Tod Israel“ gerufen wird.

Bildung ist eine wichtige Waffe im Kampf gegen Antisemitismus. Werden die Schulen ihrer Verantwortung gerecht?

Klein: Leider nicht in ausreichender Weise. Wir stellen fest, dass Antisemitismus auch an Schulen verbreitet wird. Er geht nicht nur von Schülern aus, sondern auch von den Lehrkräften. Es kommt mitunter zu fürchterlichen Bemerkungen - überall im Unterricht. Wenn der Bunsenbrenner im Chemieunterricht erklärt wird, bekommt eine jüdische Schülerin von ihrem Lehrer schon mal zu hören: „Du musst jetzt genau wissen, wie das mit dem Gas funktioniert.“ Oder im Sportunterricht gibt es Schüler, die die Sportanlage so kommentieren: „Wir danken den Juden für das Sponsoring der Aschenbahn.“ Das ist leider Realität in Deutschland. Hier müssen wir dringend handeln.

Der Bund erhöht die Leistungen für die jüdischen Gemeinden in Deutschland: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, unterzeichnen im April 2023 eine Anpassung des Staatsvertrags.
Der Bund erhöht die Leistungen für die jüdischen Gemeinden in Deutschland: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, unterzeichnen im April 2023 eine Anpassung des Staatsvertrags. © epd | Christian Ditsch

Wie?

Klein: Erstens: Wir brauchen bundesweit - und nicht nur in einzelnen Bundesländern - eine Meldepflicht für antisemitische Vorfälle in Schulen. Dann kommt keiner in Versuchung, etwas unter den Teppich zu kehren. Zweitens: Der Umgang mit Antisemitismus und Rassismus muss zum verpflichtenden, prüfungsrelevanten Bestandteil der Lehramtsausbildung in ganz Deutschland werden. Und drittens müssen wir uns genau ansehen, wie in Schulbüchern über das Judentum aufgeklärt wird.

Was fällt Ihnen da auf?

Klein: In manchen Schulbüchern wird jüdisches Leben beschrieben wie vor 2000 Jahren: Jungen lesen in der Thora und Mädchen mahlen Korn. Es gibt auch verheerende bildliche Darstellungen etwa in Religionsbüchern: Juden, die Jesus bei der Bergpredigt zuhören, werden düster gezeichnet. Das geschieht oft unbewusst, darf sich bei den Kindern aber nicht festsetzen. In Schulbüchern muss deutlich werden, dass Juden zu Deutschland gehören. Auf anderen Feldern gibt es diese Sensibilität ja auch.

Schulbuchverlage und Lehrkräfte sind wachsam beim Gendern, aber blind für Antisemitismus - wollen Sie das sagen?

Klein: Ich würde mir wünschen, dass man bei Rassismus und Antisemitismus genauso hellhörig wird, wie das in anderen Bereichen glücklicherweise der Fall zu sein scheint. Was eine Beleidigung ist, entscheiden nicht die Sender einer Botschaft, sondern die Empfänger. Jeder sollte sich überlegen, wie sich das eigene Handeln für Jüdinnen und Juden anfühlt. Das hätten sich auch die Veranstalter der Documenta oder der Konzerte von Roger Waters fragen sollen.

Dem Mitbegründer von Pink Floyd wird vorgeworfen, er setze auf seiner Konzerttournee den Staat Israel mit der Tyrannei der Nationalsozialisten gleich.

Klein: Wenigstens gibt es dieses Mal eine Debatte. Vor fünf Jahren war Roger Waters auch schon in Deutschland, und da hat es kaum Beachtung gefunden, als er Plastik-Schweine mit Davidstern in seinen Konzerten aufsteigen ließ. Leider sind die Gerichtsverfahren, die dagegen angestrengt werden, bisher zu seinen Gunsten ausgegangen - obwohl er Antisemitismus verbreitet und mutmaßlich Volksverhetzung betreibt. Ich appelliere an die Wachsamkeit von Polizei und Justiz und ermutige zu weiteren Anzeigen. Die Konzertveranstalter sollten sich gut überlegen, ob sie Verschwörungserzählern eine Bühne bieten.

München: Menschen demonstrieren vor dem Auftritt des Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters im Rahmen seiner Deutschland-Tour.
München: Menschen demonstrieren vor dem Auftritt des Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters im Rahmen seiner Deutschland-Tour. © dpa | Angelika Warmuth

Wie wirkt sich die Politik der rechts-religiösen Regierung in Israel aus?

Klein: Ich betrachte die Entwicklung in Israel mit großer Sorge. Gleichzeitig nehmen wir alle wahr, dass die Politik der Regierung Netanjahu - die Justizreform, der Umgang mit Palästinensern - nicht unwidersprochen bleibt. Die Massendemonstrationen zeigen, dass Israel eine lebendige Demokratie ist. Hervorheben möchte ich, dass sich das politische Geschehen in Israel - anders als der Krieg in der Ukraine - bisher praktisch nicht auf den Antisemitismus in Deutschland ausgewirkt hat. Das bestätigt mir der Verfassungsschutz. Wir sollten mit Ratschlägen aus Deutschland vorsichtig sein.

Würden Sie das sonst als antisemitisch einstufen?

Klein: Nein. Kritik an der Politik der israelischen Regierung - etwa am Siedlungsbau - ist legitim. In Antisemitismus schlägt es um, wenn man sagt, die Palästinenser würden so behandelt wie die Juden im Dritten Reich. Oder wenn man Israel das Existenzrecht abspricht.

Israels Sicherheit ist deutsche Staatsraison - das haben Kanzler Olaf Scholz und seine Vorgängerin Angela Merkel bekräftigt. Gilt das unverändert, wenn sich Israel mit einer Justizreform von der Demokratie entfernt?

Klein: Ja. Die Art, wie Israel seinen Staat verfasst, ist nicht unsere Sache. Unsere Sicherheitsgarantie muss davon unabhängig gelten. Die Gründung des Staates Israel ist aufs engste verbunden mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands.