Hamburg. Bestseller-Autorin Juli Zeh beschreibt in Romanen, wie das Landleben funktioniert. Für die Bauern-Proteste hat sie eine Erklärung.
Woher kommt die Wut der Bauern? Bestseller-Autorin und Juristin Juli Zeh lebt seit vielen Jahren in der Brandenburger Provinz. Mit ihren Romanen „Unterleuten“ und „Über Menschen“ hat sie Großstädtern nähergebracht, was Menschen in sehr dünn besiedelten Gegenden bewegt. Ein Gespräch über Unverständnis der Städter, Wut, gesellschaftliche Spaltung und die Kraft der Literatur.
In Ihrem jüngsten Roman „Zwischen Welten“ geht es um den Dialog alter Freunde aus Studientagen, die sich fremd geworden sind. Theresa wurde Landwirtin in Brandenburg, Stefan stellvertretender Chefredakteur einer Wochenzeitung aus Hamburg. Hätte Theresa nun mit dem Trecker in Berlin demonstriert und Stefan den „Mähdrescher-Mob“ gegeißelt?
Juli Zeh: Mit Sicherheit. Die beiden Protagonisten stehen tatsächlich für zwei Seiten in unserer Gesellschaft, die immer wieder aufeinanderprallen. Theresa hat als Milchbäuerin einen in jeder Hinsicht harten Job, fühlt sich von der Politik zurückgelassen und manchmal auch vereimert, schlägt sich mit den Sorgen des täglichen Lebens herum und hat enormen Frust aufgebaut.
Während Stefan als urbaner, gut gebildeter Medienmensch um Klimaschutz und Identitätspolitik kreist und von Theresa glaubt, dass sie einfach nicht versteht, worum es geht. So fangen die beiden an, sich regelrecht zu hassen, obwohl sie in Wahrheit sehr ähnliche Dinge wollen. Zum Beispiel gerechte Lebensverhältnisse und einen sorgsamen Umgang mit Klima und Natur.
Juli Zeh prangert das „totale Unverständnis“ zwischen den Welten an
Vor einem Jahr, bei der Lektüre, schien mir manches überzogen. Zwölf Monate später beschreibt es die Wirklichkeit. Haben Sie damals diese Spaltung schon so wahrgenommen? Oder bewusst überzeichnet?
Zeh: Für mich war das überhaupt keine Übertreibung. Das Missverständnis, oder vielleicht kann man inzwischen auch sagen: totale Unverständnis zwischen verschiedenen Lebensräumen in der modernen Gesellschaft ist eklatant. Ich beobachte das schon seit vielen Jahren. Und es wirkt sich zunehmend politisch aus. Mein Roman „Unterleuten“, den ich zwischen 2006 und 2016 geschrieben habe, handelt unter anderem davon, dass Politik in den Städten gemacht und in den Provinzen umgesetzt wird – nicht selten zulasten der Menschen vor Ort. Wenn Menschen richtig sauer werden, hat das meistens eine lange Vorgeschichte.
Sind die Menschen vor Ort richtig sauer?
Zeh: Viele sind sauer und viele sind schon jenseits davon. Sie wenden sich dann ab und gelten irgendwann als unerreichbar. Man muss sich klarmachen, wo sich die Folgen von politischen Entscheidungen oft niederschlagen. Wo werden die benötigten Stromtrassen, Windkraftparks und Solarfelder gebaut, wo werden Flüchtlinge untergebracht, wo werden gleichzeitig Krankenhäuser dichtgemacht, wo verfallen die Schulen, wo fährt kein Bus und kein Regionalzug? Nicht in den teuren Vierteln von Großstädten, sondern eher in der Provinz. Das Schlimme ist, dass vielen Menschen, die öffentlich über Politik sprechen, seien es Journalisten oder Politikerinnen oder Privatpersonen in den sozialen Medien, diese Tatsache gar nicht bewusst ist.
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Juli Zeh: Dagegen wirken die Ost-West-Unterschiede fast klein
Verlaufen die größeren Trennlinien eher zwischen Metropolen und Dörfern als zwischen Ost und West?
Zeh: Das kann man so beschreiben, wobei man sich aber darüber klar sein muss, dass Metropole und Dorf hier Metaphern sind. Man muss sie übersetzen mit Zentrum und Peripherie. Im Zentrum geht es nicht nur um urbane Wohnräume, es geht auch um hohe Bildung, um hohe Einkommen, um hohe Mobilität und hohe Erwartungen an die Welt und die eigene Person.
Die Peripherie ist nicht nur die geografische Provinz, sie kann auch eine städtische Randlage sein – letztlich abhängig von Mietpreisen. Es ist kein Zufall, dass sich andere Berufsgruppen den Bauernprotesten angeschlossen haben.
Und dann hatte ich gestern eine interessante Unterhaltung mit einem Mann aus einer Gastarbeiterfamilie, der sagte: Was die Bauernproteste ausdrücken, deckt sich mit der Stimmungslage in migrantischen Kreisen, die hart arbeiten und sich trotzdem sozial ausgegrenzt fühlen. Das fand ich interessant. Letztlich geht es also eher um den Platz innerhalb einer Gesellschaftsordnung als um einen geografischen Wohnort.
„Im Großen und Ganzen will eine überwiegende Mehrheit am Ende das Gleiche“
Schaue ich mir viele Kommentare in Leitmedien, Twitter-Stimmen oder Politiker-Aussagen an, fürchte ich: Das ist bei vielen noch nicht angekommen …
Zeh: Das ist so wahnsinnig schade. Dadurch entsteht nämlich eine negative Spirale der Selbstverstärkung: je mehr Unverständnis, desto negativer und degradierender die Reaktionen. Je mehr Degradierung, desto mehr Wut. Je mehr Wut, desto mehr Protest, der sich auf der Straße ausdrücken kann oder in der Wahlkabine – und aus dem noch mehr Unverständnis folgt.
Zwei Dinge daran sind wirklich tragisch. Zum einen, dass wir es hier gar nicht mit einer substanziellen Spaltung zu tun haben im Sinne von: Zwei Seiten der Gesellschaft wollen komplett unterschiedliche Dinge, und deshalb liegen sie unversöhnlich im Clinch. Im Großen und Ganzen will eine überwiegende Mehrheit am Ende das Gleiche. Der Ärger speist sich aus vergleichsweise oberflächlichen Verwerfungen – zum Beispiel einem neuen politischen Klassendenken, das den Privilegierten nicht ausreichend bewusst ist.
Das heißt, es wäre im Grunde ziemlich leicht, konstruktivere Politik zu machen, und trotzdem gelingt es nicht. Der zweite tragische Punkt ist, dass die Profiteure dieser Probleme vor allem die Rechtspopulisten sind. Die müssen gar nichts tun. Nur da sitzen, auf die Regierung schimpfen und darauf warten, dass ihnen die Frustrierten zulaufen.
Dann erreichen manche Linke mit ihrem Aufruf auf Twitter genau das Gegenteil? Sie teilen dort die Aufforderung, Traktoren mit grünen Kennzeichen zu fotografieren und Strafanzeige zu erstatten. Denn das sei eine Zweckentfremdung.
Zeh: Natürlich erreicht man das Gegenteil. Wenn im Rahmen einer Demo Straftaten begangen werden, obliegt es den Behörden, sich darum zu kümmern. Wenn man hingegen als Privatperson an solchen Aktionen teilnimmt, sendet man eine Botschaft, und genau das ist auch bezweckt.
Ist es nicht erstaunlich, dass Menschen, die sich selbst als „links“ definieren, eine Protestbewegung nicht mehr erkennen, wenn sie sie vor sich haben? Das linke Politikverständnis beruhte einst auf der Erkenntnis, dass gerade im Bereich der Arbeiter und Bauern strukturell immer Benachteiligungen bestehen, gegen die man anarbeiten muss, wenn man den gesellschaftlichen Frieden wahren will.
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Kleinere Höfe sind sehr häufig von der Pleite bedroht
Die Solidarität mit den Bauern hält sich in Grenzen.
Zeh: Solidarität würde ich gar nicht verlangen. Es würde schon reichen, den Protest nicht zu delegitimieren. Zum Beispiel durch die Behauptung, er sei ökonomisch nicht gerechtfertigt – was für kleinere Höfe an den Fakten vorbeigeht, weil diese sehr oft von der Pleite bedroht sind. Und was außerdem übersieht, dass wir es hier auch mit politischem Frust zu tun haben, der sich aus schlechter Agrarpolitik speist, die viel von den Bauern will und ihnen gleichzeitig dauernd bürokratische Hürden in den Weg legt.
Statt etwas besser zu machen, reproduziert man den gleichen Fehler: Man glaubt den Leuten nicht, dass sie sich anstrengen, um für sich selbst und für die Gesellschaft etwas Gutes zu erreichen. Man respektiert sie nicht, und man signalisiert ihnen, dass sie politisch nicht vertreten werden. Jedenfalls nicht von der Linken.
Dieser Konflikt ist kein Problem der Ampel
Ist die Krise im Land auch eine Folge der Krise der Linken, die ihren Kompass verloren hat?
Zeh: Ich empfinde es eher als eine Krise der politischen Vernunft. In einem demokratischen System bedeutet Politik, dass man Menschen zugesteht, Interessen zu haben, und dass diese Interessen dann politisch vertreten werden. Politische Vernunft heißt, dass man diese Interessen erkennt und Mehrheiten organisiert.
Nicht vernünftig ist, Interessen zu degradieren oder zu delegitimieren und substanzielle Mehrheitsbildung durch politische Imperative und Alternativlosigkeiten zu ersetzen. Leider geht das schon sehr lange so, das ist kein Problem der Ampel, sondern reicht weiter zurück. Da sind politische Gewohnheiten entstanden, die immer schwerer zu durchbrechen sind.
Da stellt sich die Frage, wie sich das wieder drehen lässt.
Zeh: Die gute Nachricht ist, dass es nicht um substanzielle Meinungsunterschiede geht, die sich nicht überbrücken lassen. Man stelle sich vor, nur als Beispiel, die Bauern würden nach Berlin fahren, um gegen die Energiewende zu protestieren. Sie würden sagen: Wir lehnen das ab. Wir machen da nicht mit. Und wir werden ohne Rücksicht auf Verluste dagegen kämpfen. Aber so ist es ja nicht!
Die Bauern sind bereit, an der Umstrukturierung teilzunehmen, sie gehören sogar zu den Berufsgruppen, die am härtesten dafür arbeiten. Sie verlangen dafür akzeptable, realistische Bedingungen. Und sie verlangen, dass man sie nicht als faule und gierige Dummköpfe tituliert.
Es geht darum, auch die Forderungen der anderen zu respektieren
Wie lassen sich die Gräben überwinden?
Zeh: Es wäre mühelos möglich, dass beide Seiten zum politischen Anstand zurückkehren, indem man sich überlegt, wo die Schnittmengen sind, und dafür gute Lösungen findet, entweder als Kompromisse oder sogar als Win-win-Situation. Das gilt für viele andere politische Bereiche genauso. Jeder Einzelne von uns kann aktiv dazu beitragen.
Man muss nur, bevor man etwas äußert oder im Internet postet, einmal kurz überlegen: Ich halte mich selbst doch für einen recht anständigen Menschen, der versucht, seine Sache gut zu machen und die persönlichen Bedürfnisse mit den Bedürfnissen von anderen in Einklang zu bringen. Gestehe ich diese innere Haltung auch anderen Menschen zu, zum Beispiel protestierenden Bauern, oder werte ich diese ab gegenüber mir selbst?
Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass man in Wahrheit nur sich selbst und dem eigenen Umfeld eine korrekte innere Haltung zugesteht, während man die Forderungen von Menschen, die einem fremd erscheinen, grundsätzlich nicht respektiert, dann hat man die Wurzel eines politischen Problems entdeckt, an dem man arbeiten kann.
Verstehen Sie das als Aufgabe von Literatur? Das Fremde verständlicher machen?
Zeh: Unbedingt. Literatur hat geradezu den Auftrag dazu. Schlicht deshalb, weil sie es kann. Literatur arbeitet damit, sich in das Denken und Fühlen von anderen Menschen hineinzuversetzen. Und das Erleben ist für uns alle ja nach wie vor Voraussetzung des Verstehens. Weil man nicht alles selbst erleben kann – genau deshalb gibt es Literatur.
Sie haben mehrfach Verwerfungen und Fehlentwicklungen früh thematisiert, ob in „Unterleuten“, „Zwischen Welten“ oder eben „Corpus Delicti“ über eine Gesundheitsdiktatur – ein Buch, das man nach Corona mit anderen Augen las. Kann Literatur Frühwarnsystem sein?
Zeh: Natürlich kann Literatur die Zukunft nicht sicher vorhersagen. Aber sie kann Tendenzen in der Gegenwart klar herausarbeiten. Erleben ist die Grundlage des Verstehens, und Verstehen ist die Grundlage von erfolgreichem Handeln. Literatur kann beim Erleben und beim Verstehen helfen. Es steht dann den Lesern und Leserinnen frei, ob sie darin zum Beispiel eine Warnung entdecken. Eine Literatur, die politische Vorschläge macht oder Handlungsanweisungen erteilt, wäre hingegen nicht so mein Fall.
In Ihrem Roman „Leere Herzen“ gewinnt eine rechtspopulistische Partei die Bundestagswahl und stellt daraufhin eine weibliche Kanzlerin. Ist das eine weitere literarische Prognose?
Zeh: Als ich „Leere Herzen“ geschrieben habe, wirkte diese Idee wie makabre politische Science-Fiction. Nun schauen wir zu, wie dieses Szenario Jahr für Jahr wahrscheinlicher wird. Inklusive des Verhaltens der Bürger, die in „Leere Herzen“ zwischen aggressivem Widerstand und Rückzug ins Private hin und her schwanken. Mir wird ganz anders bei dem Gedanken, was für ein großartiges Stück demokratischer Kultur wir in Deutschland gerade opfern, nur aus Lust an der Lagerbildung, am „recht haben und recht behalten“. Vielleicht sollte ich in Zukunft lieber nur noch Utopien schreiben, etwa über eine friedliche und perfekt gerechte Gesellschaft.
Das Gespräch wurde – inspiriert vom Briefroman „Zwischen Welten“ – in einem Mailwechsel geführt und anschließend minimal überarbeitet.
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