Berlin. Zehntausende Menschen und Politiker aus aller Welt haben in Berlin an den Mauerfall vor 20 Jahren erinnert. Mit dem Fest der Freiheit erreichten die Feierlichkeiten am Abend ihren Höhepunkt.
Es ist so nasskalt wie vor 20 Jahren. Und genauso wie damals herrschen Gedränge und Stau. 1989 standen die Ostdeutschen nach der „Tagesschau” an den Grenzübergängen Schlange. 2009 sind es die wiedervereinigten Berliner und Zehntausende Gäste aus aller Welt, die schon am Morgen warten müssen, weil die mit 3500 Beamten verstärkte Hauptstadt-Polizei immer wieder ganze Kreuzungen für die Eskorten der Staatsgäste sperrt.
Zu diesem Zeitpunkt stehen sie noch, die stummen, bunten Hauptakteure der Feierlichkeiten im Jahr 20 nach dem deutsch-deutschen Jubelereignis. 1000 Styropor-Stelen, kunstvoll bemalt von Schulkindern, aufgebaut zwischen Potsdamer Platz und Reichstag, warten auf den großen Moment. Wie Dominosteine fielen sie am Abend, angestoßen von Polens Ex-Gewerkschaftsführer und Präsident Lech Walesa und dem früheren ungarischen Ministerpräsidenten Miklos Nemeth auf der einen sowie EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und EU-Parlamentspräsident Jerzy Buzek auf der anderen Seite - ein farbenfrohes, ein starkes Symbol für den Fall der echten Mauer. Der Fall der Steine auf Youtube
"Diese Steine berühren mich emotional"
Schon am Mittag bestaunen Tausende Schaulustige bei trübem Wetter die 2,50 Meter hohen Kunstwerke. „Es ist sagenhaft, was die Jugendlichen daraus gemacht haben”, sagt Jutta Reinhardt. Gaetan Mairesse aus Lille pflichtet bei: „Diese Steine berühren mich emotional.”
Emotional: Ich bin ein Berliner - ein Wort, das man immer wieder hören wird an diesem beziehungsreichen Tag. Menschen erzählen, wie es damals war. Und wundern sich vielleicht, wo ihre Hoffnungen geblieben sind. Die Blechbläser in der Gedenkstätte an der Bernauer Straße haben gerade „Lobet den Herrn” gespielt. Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) und Berlins Regierender Klaus Wowereit (SPD) stehen mit Walter Momper, dem mit dem dauerroten Schal, im Nieselregen und frieren. „Wir haben die Freiheit gewonnen!”, ruft Bürgerrechtler Erhard Neubert in diesem Moment den Festgästen und den vielen ausländischen Journalisten zu. „And we won't let it go”
Minuten später spannt Manfred Fischer, der Pfarrer der Weddinger Versöhnungsgemeinde am ehemaligen Grenzstreifen, in der Kapelle der Gedenkstätte den Bogen bis zu jenem anderen deutschen Gedenktag: „Neben der Sternstunde des Mauerfalls steht der dunkle und mit Schuld beladene 9. November 1938.” Der Schandtag, als in Deutschland jüdische Synagogen brannten.
Dieses Kapitel wollen sie am Abend auf dem Pariser Platz nicht aufschlagen. Dort, auf der vom ZDF gekaperten Ost- und Westseite des Brandenburger Tors, soll sie sich gleich ergießen, die Sturzflut der kleinen und großen Momente. Daniel Barenboim dirigiert die Staatskapelle zu Wagner, Schönberg und Beethoven - Open-Air mit Regenschirm! Sarkozy, Medwedew, Frau Clinton und, natürlich, Angela Merkel sprechen wie wenige Meter weiter auch Michael Gorbatschow und Hans-Dietrich Genscher von den Tagen des Glücks.
"Wir haben den Mauerfall glatt verschlafen"
Immer wieder versucht der volkseigene Moderator des Abends, Thomas Gottschalk, die Stimmung des 9. November 1989 zu beschwören. Zeitzeugen stülpen dazu ihre staatstragenden Masken über. Man sieht sie auf den Großbildschirmen entlang der Feiermeile. Die Stimmung unter den Besuchern ist geteilt: Ein Volksfest mit Bratwurst und Bier erwarten die einen. Andere schauen ergriffen und kriegen feuchte Augen, als sie die Reden hören. Später, wenn das Gastgeschenk des amerikanischen Botschafters, ein Live-Lied der Bombast-Rocker „Bon Jovi” verklungen und der letzte Domino-Stein gefallen sein wird, singen die Massen zur Welturaufführung laut beseelt: „Wir sind eins”, die nagelneue Feiertags-Hymne des Berliner Techno-Papstes Paul van Dyk.
„Einfach dabei sein” will Barbara Licha, als die Kanzlerin zusammen mit Michael Gorbatschow, Lech Walesa und ehemaligen Bürgerrechtlern über die Brücke am alten Grenzüberbang an der Bornholmer Straße läuft. Hier hatten die DDR-Grenzer am Abend des 9. November als erste die Schranken geöffnet, hier fiel der legendäre Satz „Wir fluten jetzt.”
Die 68-jährige Ostberlinerin hat früher ganz in der Nähe gewohnt, im Jahr des Mauerfalls aber war sie schon in ein anderes Viertel gezogen. „Leider”, sagt Licha heute. „Wir haben damals den Mauerfall glatt verschlafen.” Ihr Sohn lebt mittlerweile in Schwerte. „Heute”, sagt Angela Merkel, könne man bei den Jungen nicht mehr unterscheiden, wer aus dem Osten und wer aus dem Westen komme. „Dafür hat es sich gelohnt zu kämpfen.” NRZ