Washington. In den vergangenen 100 Jahren scheiterten mindestens fünf US-Präsidenten mit dem Versuch, eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen. Barack Obama versuchte jetzt mit einer dramatischen Rede vor dem Kongress, Widerstände gegen das Vorhaben zu brechen.

Mit einer leidenschaftlichen Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses hat US-Präsident Obama die bisher geübte Zurückhaltung aufgegeben und sich mit einem eigenen Plan in die Debatte um die Gesundheitsreform eingeschaltet. „Die Zeit der politischen Spiele ist vorüber. Jetzt ist die Zeit zum Handeln gekommen“, erklärt der Präsident im Rückblick auf die Mob-Pöbeleien bei Bürgersprechstunden, Warnungen vor Todeskomitees und Sozialismus und absurden Hitlervergleichen der Augustwochen. Ein bizarres Sommertheater, dessen Effekt das Weiße Haus anfangs unterschätzt hatte.

Insofern war die Kulisse für Obamas Gesundheitsrede mit Bedacht gewählt. Der Auftritt vor beiden Häusern des Kongresses ist ein seltener, würdiger Rahmen für Präsidenten, die nur dann auf den Capitol Hill kommen, wenn sie zur Lage der Nation sprechen, Kriege erklären oder ein Anliegen von historischer Dimension vortragen wollen. Die Gesundheitsreform gehört zweifelsohne dazu. Scheiterten in den vergangenen 100 Jahren mindestens fünf Präsidenten bei dem Versuch, den Amerikanern zu geben, was alle anderen Industrienationen auf der Welt haben: Eine allgemeine Krankenversicherung.

Versuch, die Meinungsführerschaft zurück zu gewinnen

„Ich bin nicht der erste Präsident, der das Anliegen aufgreift, aber ich bin entschlossen der letzte zu sein“, setzt Obama den Ton für seine 47-Minuten lange Rede, die ein doppeltes Ziel verfolgt. Zum einen versucht der Präsident die öffentliche Meinungsführerschaft zurück zu gewinnen, zum anderen will er den Kongress antreiben, die notwendigen Kompromisse für eine Reform zu schließen.

Obama mischt sich dafür in die konkreten Details der Debatte ein, die er bisher den fünf zuständigen Ausschüssen in Senat und Repräsentantenhaus überließ. Indem er nun von „meinem Plan“ spricht, legt er sich erstmals auf Eckpunkte der Gesundheitsreform fest. Dazu gehören die Einführung einer individuellen Versicherungspflicht, die Beteiligung der Arbeitgeber an den Kosten für die Krankenversicherung, die Regulierung des bisher unkontrollierten Gesundheitsmarktes und Kostenneutralität einer Reform, die Obama mit 900 Milliarden US-Dollar über die kommenden zehn Jahre veranschlagt.

Mit Blick auf die wichtige Gruppe der unabhängigen Wähler tritt Obama als Vermittler auf, wenn er betont, er habe Elemente aus allen politischen Lagern aufgenommen. Der Parteilinken verspricht er, sich für eine öffentliche Versicherung („Public option“) einzusetzen, die mit Privatanbietern konkurriert. Gleichzeitig mahnt er die Abgeordneten, flexibel zu bleiben. Den Republikanern kommt er entgegen, wenn er verspricht, teure Schmerzengeldprozesse gegen Ärzte einzuschränken. Geschickt hebt er einen Vorschlag John McCains vor, den er in seinen Plan eingebunden hat.

Obama wehrt sich gegen Hetzattacken

Dagegen verwehrt sich der Präsident ausdrücklich gegen das Niveau der Kritik einiger Reformgegner, die in der Sommerpause mit frei erfundenen Behauptungen Stimmung machten. Obama nennt die angebliche Einrichtung von Todeskomitees, die über die medizinische Versorgung kranker Senioren entschieden, „ein Lüge, schlicht und einfach“.

Erste Umfragen nach der Rede zeigen, dass der Präsident deutlich an öffentlicher Unterstützung hinzugewinnen konnte. Zweidrittel der Befragten einer CNN-Erhebung geben an, sie unterstützten Obamas Plan. Damit legte er 14 Prozentpunkte gegenüber Ergebnissen vor der Rede zu. Auch in den Medien werteten Kommentatoren und Analysten den riskanten Auftritt vor dem Kongress überwiegend als „effektiv“.

Pöpelnder Republikaner

Dazu beigetragen haben dürfte der Kontrast, den Obama mit seiner sachlichen Argumentation zu dem unzivilisierten Schauspiel der vergangenen Wochen lieferte. Als wollte der republikanische Hinterbänkler Joe Wilson aus South Carolina die Amerikaner noch einmal daran erinnern, brüllte er aus vollem Hals „Sie lügen“, als der Präsident darlegte, dass kein illegaler Einwanderer von der Reform profitiere. Ein unerhörter Tabubruch im Kongress, der nach Ansicht von Analysten demonstriert, wie respektlos Obama von Teilen der Republikaner behandelt wird.

Wilson entschuldigte sich später für sein Verhalten, das den Appell des Präsidenten unbeabsichtigt verstärkte. „Es geht darum, wer wir sind, was unser Charakter ist“, schließt Obama seine dramatische Rede nachdem er aus einem Brief des verstorbenen Senators Ted Kennedys zitierte. Dieser flehte darin ein letztes Mal, „das unerledigte Geschäft“ der Gesundheitsreform noch in diesem Jahr im Kongress zu erledigen.