Essen. Immer weniger Erwerbstätige, immer mehr Kranke und Alte - dem Gesundheitswesen droht bereits in wenigen Jahren der Kollaps. Kieler Gesundheitsforscher fordern ein radikales Umdenken von der Politik. Die Beiträgssätze könnten in der Zukunft stark ansteigen.
Das deutsche Gesundheitswesen wird in absehbarer Zeit zum Pflegefall. Diagnostiziert worden ist das schon oft, mit therapeutischen Ansätzen tut die Politik sich aber schwer. Für eine Rosskur ist das Feld Gesundheit zu sensibel, also hat man in den vergangenen Jahren etwas hilflos an Symptomen herumgedoktert. Viel Zeit bleibt der Politik allerdings nicht mehr, schon in wenigen Jahren droht dem System der Kollaps. Das belegt eine jetzt veröffentlichte Studie des angesehenen Kieler Institut für „Gesundheits-System-Forschung” (IGSF).
Die Deutschen werden älter und damit krankheitsanfälliger, zugleich sinkt in Zukunft die Zahl derjenigen, die das Gesundheitssystem finanzieren. Diese zentrale Erkenntnis der „Morbiditätsprognose 2009” ist nicht neu, wird aber von den Forschern mit eindrucksvollen Zahlen zur künftigen Häufigkeit von bestimmten Krankheiten unterfüttert.
Demnach wird sich bis 2050 die Zahl der Demenzkranken von heute rund 1,1 Millionen verdoppeln; unter Diabetes werden bis zu 7,8 Millionen Deutsche und damit rund ein Viertel mehr als heute erkrankt sein; gut 548 000 Menschen und damit 75 Prozent mehr als heute werden einen Herzinfarkt erleiden. Auch bei Schlaganfällen (plus 62 Prozent) und Krebserkrankungen (plus 27 Prozent) erwarten die Kieler Forscher bis zum Jahr 2050 deutliche Zunahmen der Patientenzahlen.
Gleichzeitig wird die Zahl der Erwerbstätigen rapide, nämlich um fast ein Drittel, abnehmen. Rein ökonomisch betrachtet tickt also eine Zeitbombe im Gesundheitswesen.
Bereits in zehn Jahren wird es eng
Nun könnte man der Ansicht sein, 2050 sei noch weit weg, ergo noch viel Zeit, sich für kommende Herausforderungen zu wappnen. Weit gefehlt, warnen die Forscher: Bereits in zehn Jahren werde es eng. Dann werden die geburtenstarken Jahrgänge das Rentenalter erreichen.
IGSF-Chef Fritz Beske: „Es darf keine weitere Reform im Gesundheitswesen, keine neue Gesetzgebung mehr geben, die sich nicht daran orientiert, was an Problemen auf die Gesundheitsversorgung aufgrund der demografischen Entwicklung zukommt.”
2050: Beitragssatz von 44 Prozent?
Falls bei der Finanzierung der gesetzlichen Krankheitsversicherung alles beim Alten bleibt, wird es laut den IGSF-Experten für die Beitragszahler teuer: Bevölkerungsentwicklung und medizinischer Fortschritt könnten 2050 Beitragssätze von bis zu 44 Prozent nötig machen: „Ein derartiger Beitragssatz wird weder von der Bevölkerung noch von der Politik akzeptiert”, konstatieren die Forscher nüchtern.
Das ist auch der Politik durchaus klar, weswegen beispielsweise die SPD ein altbekanntes Rezept in ihr Wahlprogramm aufgenommen hat: „Wir wollen das solidarische Gesundheitssystem erneuern und seine Finanzierung mit einer Bürgerversicherung auf ein breiteres Fundament stellen”, so SPD-Generalsekretär Hubertus Heil im NRZ-Gespräch. Nun wäre Fritz Beske, Jahrgang 1922, in den siebziger Jahren nicht in einer CDU-geführten Landesregierung Staatssekretär im Kieler Sozialministerium gewesen, wenn er für derlei rot gefärbte Rezepte etwas übrig hätte: „Die Vorstellung, dass durch eine Bürgerversicherung Milliarden in das GKV-System fließen könnten, ist illusorisch”, spottet er. Wenn die gesetzlichen Kassen durch eine Bürgerversicherung zehn Prozent mehr Beitragszahler erhielten, müssten sie schließlich auch zehn Prozent mehr Versicherte versorgen, so Beske.
Sein Rezept ist einfach, radikal – und dürfte das zementieren, was gemeinhin als Zwei-Klassen-Medizin bezeichnet wird: Beske plädiert für eine drastische Verschlankung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Kassen und mehr Eigenverantwortung der Versicherten. Heißt: Wer das Geld hat, soll sich zusätzlich versichern, ähnlich wie bei der Rente.
Die „organisierte Gesundheitsversorgung” müsse aber garantieren, dass Alter kein Grund für einen Leistungsausschluss ist (à la „keine neuen Hüftgelenke für über 85-Jährige”), alle vom medizinischen Fortschritt profitieren und wohnortnah versorgt werden, so Beske.
„Wir kommen nicht um eine Diskussion herum”
Über diese gleichwohl neoliberal angehauchte Rezeptur lässt sich trefflich streiten, nicht aber über eine grundsätzliche Erkenntnis des Kieler Forschers: „Die Politik muss der Öffentlichkeit ehrlich sagen, was auf sie zukommt. Wir kommen nicht um eine Diskussion um die zukünftige Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems herum.”