Agli. Jahrzehntelanger Krieg und die Folgen der Klimakatastrophe bedrohen die Menschen in Afghanistan. Ein Hühner-Projekt aus Oberhausen macht Hoffnung.

Ob er wisse, was der Grund für das Unheil sei? Der alte Mann überlegt kurz, hebt die Hand, fährt über sein Gesicht, gestikuliert. „Die Menschen machen viele Sachen, die nicht mit dem Glauben vereinbar sind. Es ist ein Fluch Gottes.“ Tatsächlich ist das, was Abdula Samads Dorf in den vergangenen fünf Jahren widerfahren ist, eine Folge des Klimawandels, der Afghanistan so hart wie wenig andere Länder trifft. Es fällt kaum noch Regen in Agli. Und wenn der Regen kommt, sind es oft zerstörerische Wassermassen. Im Mai mussten sie hier im Dorf drei Flutopfer beerdigen.

Einige Stunden zuvor: Die Fahrt von der afghanischen Hauptstadt Kabul in die Provinz Baghlan in den Norden führt über den Salang-Pass. Es sind nur knapp 250 Kilometer, die Reise dauert aber, wenn es gut läuft, sechs Stunden. Die Straße, die sich ins Gebirge hochschlängelt, ist in einem fürchterlichen Zustand, so wie die gesamte Infrastruktur Afghanistans nach vier Jahrzehnten Krieg.

„Afghanistan ist bitterarm und von der Welt vergessen“

Die Jeeps des afghanischen Roten Halbmondes quälen sich über die Buckelpiste. An Bord eines der Fahrzeuge: Claudia Peppmüller, Sprecherin des Friedensdorfs International aus Oberhausen. Die deutschen Helfer arbeiten seit 1988 in Afghanistan und holen von hier verletzte und kranke Kinder zur Behandlung nach Deutschland. Diesmal ist Peppmüller in einer anderen Mission unterwegs.

„Afghanistan ist bitterarm und von der Welt vergessen“, sagt Peppmüller. „Eine Naturkatastrophe folgt der nächsten. Wir versuchen, zumindest einigen Familien Perspektiven zu geben.“ Mit der Caritas Flüchtlingshilfe aus Essen hat das Friedensdorf den Kauf von insgesamt 5000 Hühnern finanziert. Jetzt geht es in ein Dorf, in dem Bewohner von dem Projekt profitieren.  

In Agli gibt es keinen Strom und kein fließendes Wasser

Entlang des Weges liegen die Überbleibsel der fremden Armeen, die in das Land eingefallen sind. Wracks sowjetischer Panzer und amerikanischer Humvees, Container mit der Aufschrift „Eigentum der US-Armee“. Auf der Straße kommen einem uralte sowjetische Ural-Trucks entgegen, die Taliban an den Checkpoints sind mit Kalaschnikows und M16 bewaffnet.

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Wer ein Huhn besitzt, kann sich von den Eiern ernähren - oder sie verkaufen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Agli ist ein kleines Dorf im Distrikt Nahrin. Ockerfarbene Lehmhäuser, die sich in die Hügel schmiegen, als seien sie aus der kargen Landschaft herausgewachsen. Kein Strom, kein fließendes Wasser, die nächste Gesundheitsstation ist zwei Stunden Autofahrt entfernt. Eine heruntergekommene Schule, in der die Kinder in den Klassen auf dem Boden sitzen. Für die Kleinen ist der Besuch aus dem fernen Deutschland eine Sensation: Sie stürmen heran, lachen. Sie sind alle sehr dünn.

Der neue Feind ist der Klimawandel

Die 140 Familien, die in dem Dorf leben, kämpfen noch immer. Ihr neuer Feind ist der Klimawandel. Die Felder um das Dorf sind rissig, hier wächst nichts mehr, seit im Mai eine Sturzflut die Region heimsuchte.  „Wir hatten ein Feld mit Wassermelonen, das ist völlig zerstört worden. Es war unsere einzige Einkommensquelle“, sagt Ghol Nazar, ein bärtiger, schmalgesichtiger Mittvierziger.

Nazar ist Vater von acht Kindern. Er berichtet, wie der alte Abdul Samad, dass es seit Jahren zu trocken ist, um ertragreiche und auskömmliche Landwirtschaft betreiben zu können. Der einzige Brunnen liefert kein Trinkwasser mehr. „Das Wasser ist ungenießbar und macht krank“, sagt Nazar. Die Kinder, Frauen und Männer reiten deshalb jeden Tag mit ihren Eseln eine halbe Stunde zu einem kleinen vermoosten Rinnsal, in dem trinkbares Wasser fließt.  

Hühner für alleinerziehende Mütter in Afghanistan

70 Familien haben das Dorf bereits verlassen, um in der Großstadt Baghlan ein neues Leben aufzubauen. Es sind Familien, deren Väter sich als Tagelöhner verdingen und deren Kinder an die Scheiben von Autos klopfen, um Kulis oder Wasserflaschen zu verkaufen. Der alte Abdul Samad hat Angst, dass sein Dorf ausstirbt. „Wir brauchen einen neuen Brunnen“, bittet er die deutschen Helfer.

In Agli hat der Afghanische Rote Halbmond, die Partnerorganisation des Friedensdorfes, Hühner an zwölf alleinerziehende Mütter verteilt. In einem kleinen Stall an einer der ärmlichen Lehmhütten gackern und scharren einige der Tiere. Hier lebt Rana, die nur reden will, wenn sie ihren richtigen Namen nicht nennen muss und wenn Claudia Peppmüller sie allein mit einer Übersetzerin in ihrem Haus besucht. Hier draußen in der Provinz denken die Menschen sehr konservativ.

Die Kinder werden vor allem mit grünem Tee ernährt

Eine gute halbe Stunde ist die Helferin in der Hütte, als sie herauskommt, wirkt sie mitgenommen. Rana ist 25 Jahre, hat vier Kinder und ihren Mann durch einen Unfall verloren. „Sie hat mir gesagt, dass sie ihre Kinder vor allem mit Grünem Tee ernährt, manchmal gibt sie Zucker dazu.“  

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Das Hühnerprojekt für Afghanistan soll 2025 ausgeweitet werden. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Wie viele der Kinder im Dorf haben auch Ranas Kinder Kopfpilze. Behandeln lassen kann ihre Mutter sie nicht, sie hat kein Geld, die Reise zur nächsten Gesundheitsstation sei für sie nicht finanzierbar, habe Rana erzählt. „Ich habe sie gefragt, was geschehen würde, wenn sie oder die Kinder schwer erkranken“, berichtet Peppmüller. Rana habe sehr trocken geantwortet: „Dann sterben wir.“

Das Hühnerprojekt wird ausgeweitet

Jetzt kann die Mutter ihren Kindern ab und an Eier machen – oder Eier verkaufen. Sie hat, wie die anderen Alleinerziehenden im Dorf, neun Hühner und einen Hahn erhalten. Es ist ein Projekt, das Hoffnung macht, schildern alle Dorfbewohner.  Insgesamt konnten rund 500 Familien in 60 Dörfern versorgt werden, berichten die Verantwortlichen vom Afghanischen Roten Halbmond.

Der Bedarf ist aber deutlich höher.  Schon auf der Fahrt zurück in die Hauptstadt Kabul tauscht sich Peppmüller deswegen mit Birgit Stifter, der Leiterin des Friedensdorfes aus. Die beiden Frauen diskutieren die Situation und beschließen: Das Hühnerprojekt wird ausgeweitet, die heruntergekommene Schule des Ortes saniert und ein Brunnen gebohrt. Wenige Wochen später fließt das erste frische Wasser in Agli. Im Frühjahr werden neue Hühner ausgeliefert.