Brüggen. Physician Assistant: Lisa Janssen ist eine der ersten, die den Beruf ausübt. Warum viele Patienten lieber mit ihr reden – und ihr Chef das gut findet.

Heute Morgen hat Lisa Janssen erst einmal zwei Stunden in der Akutsprechstunde gearbeitet, sich angehört, worunter die Menschen in Brüggen denn gerade so leiden. Nichts wahnsinnig aufregendes. Atemwegsinfekt hier, Blasenentzündung dort und die eine oder der andere braucht einfach nur eine Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit oder ein neues Rezept. Und Lisa Janssen macht das alles, hört zu, macht die Erstuntersuchung, erwägt eine Therapie, sucht die passenden Medikamente – und gibt dann die Fälle zur Entscheidung weiter an einen echten Doktor.

Denn Lisa Janssen, die weitgehend das tut, was Ärztinnen und Ärzte auch tun, ist Physician Assistant. Frei übersetzt: Sie ist die rechte Hand des Arztes, der in diesem Fall Dr. Johann Heinrich Arens heißt und in dem kleinen Niederrhein-Ort mit 7500 Einwohnern unweit der niederländischen Grenze schon seit Jahrzehnten nach Lösungen sucht, wie sich denn der Medizinermangel auf dem Land therapieren lässt. Ein medizinisches Versorgungszentrum ist seine Antwort darauf: Teamarbeit über Berufsbildergrenzen hinweg.

Impfung, Ultraschall, Wunden versorgen: Lisa Janssen macht‘s

Seine Antwort ist: viele Antworten. Aber eine der wichtigsten davon ist Lisa Janssen und ihre Stellung als PA. Die 25-Jährige darf weit mehr als medizinische Fachangestellte, sie macht Herzuntersuchungen, kann Wunden versorgen, Blut abnehmen und entscheiden, welche Werte sie vom Labor haben möchte, sie darf Impfungen verteilen, das Stethoskop zücken und abhören und sich per Ultraschall das Innenleben der Patientinnen und Patienten anschauen.

Aber sie darf eben nicht alles, was ein Arzt darf. Sie macht den Vorschlag, welche Medikamente und welche Therapie sie für richtig hält, die letzte Entscheidung und die Unterschrift unters Rezept oder den Therapieplan, die kommt immer noch vom Arzt.

Dr. Johann Heinrich Arens ist Arzt im medizinischen Versorgungszentrum Brüggen.
Dr. Johann Heinrich Arens ist Arzt im medizinischen Versorgungszentrum Brüggen. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Johann Heinrich Arens, eigentlich schon ein paar Jährchen über die Pensionsgrenze hinaus, weiß, was er an der 25-Jährigen hat. Sie macht für ihn viele Hausbesuche. „Und die Leute erzählen ihr viel mehr als mir“, sagt er. Gerade die Älteren haben oft noch viel Respekt vorm Herrn Doktor und berichten dann lieber eher stiekum der netten jungen Dame, was sie sonst noch alles für Schwierigkeiten haben. „Das gibt mir dann ein besseres Bild von der Gesamtsituation“, sagt Arens.

Ihr Chef: Dank Lisa Janssen habe ich ein besseres Gesamtbild

Wenn er erfährt, dass dem älteren Herren, von dem er nur die viel zu hohen Blutdruckwerte kennt, vor wenigen Wochen die Frau gestorben ist und in der Wohnung das komplette Chaos herrscht und er gar nicht mehr weiß, wo seine Blutdrucksenker sind. „Da weiß ich: Ich muss sehen, dass ich die Angehörigen verständige, dass sie sich Gedanken machen um eine mögliche Demenz und die Einbindung eines Pflegedienstes.“

Und umgekehrt, sagt Lisa Janssen. „Es ist schon sehr beruhigend, dass ich immer weiß: Wenn ich Zweifel habe, kann ich einen Arzt hinzuziehen.“ Wie beispielsweise bei dem Patienten mit Blasenentzündung. Ist das wirklich nur ein bakterieller Infekt? Oder könnte hinter den Schmerzen und den Schwierigkeiten beim Wasserlassen auch mehr stecken? Harnröhrenverengung, Nierenleiden, ein Tumor?

Erkennen, ob jemand gesund oder krank ist, ob sich die chronische Krankheit so verhält, wie man es erwartet und sie entsprechend behandeln, das ist ihr Geschäft. Erkennen, dass was nicht stimmt, das kann Lisa Janssen dank einer dreijährigen Hochschulausbildung, die sie mit dem Bachelor abgeschlossen hat. Was genau womöglich nicht stimmt, wie Symptome zu deuten sind, das weiß dann der Mediziner womöglich besser.

Hochschulausbildung mit Schauspiel-Patienten

Das ist wohl das Wichtigste an der dualen Ausbildung, die Lisa Janssen in diesen noch relativ jungen und relativ seltenen Beruf geführt hat: Sie kennt vielleicht nicht alle Antworten, die ein Mediziner hat, aber sie weiß zumindest, welche Fragestellung im Raum steht. Angefangen hat sie nach dem Fachabi als Medizinische Fachangestellte. „Meine Mutter arbeitete in einer Arztpraxis und das fand ich immer toll“, erzählt sie. Doch ihr Wissenshunger war nach der Ausbildung zur MFA eher noch größer geworden und irgendwann wurde sie auf das duale Studium zur Physician Assistant aufmerksam.

Abhören, Zuhören und Einschätzen: Ist hier ein Patient mit Alltagswehwehchen oder ist die Krankheit so komplex, dass der Arzt selbst hinschauen muss? Lisa Janssen arbeitet als Physician Assistant im medizinischen Versorgungszentrum Brüggen.
Abhören, Zuhören und Einschätzen: Ist hier ein Patient mit Alltagswehwehchen oder ist die Krankheit so komplex, dass der Arzt selbst hinschauen muss? Lisa Janssen arbeitet als Physician Assistant im medizinischen Versorgungszentrum Brüggen. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Und so hat sie in Rheine an einer Fachhochschule studiert, wegen Corona oft von zu Hause. Aber sie hat auch Praxiseinheiten gehabt, in der Schauspielerinnen und Schauspieler mit fiktiven Symptomen zu behandeln waren, sie hat in der Notaufnahme des Essener Uni-Klinikums gearbeitet und ist auf dem Rettungswagen mitgefahren. Und noch immer legt sie jede Woche einen Labortag ein, um auch da auf dem Laufenden zu sein. „Sie ist zwei Jahre jünger als ich damals, als ich angefangen habe“, sagt Arens. „Ich wusste damals alles, aber hatte keine Ahnung.“

Physician Assistant: Was ist das?

Menschen mit einer Ausbildung als Medizinische Fachangestellte oder Pflegekraft können sich innerhalb von drei Jahren zum Physician Assistant weiterbilden. Das geschieht an diversen öffentlichen und privaten Hochschulen berufsbegleitend. In der Region macht das beispielsweise die Fliedner-Hochschule in Kaiserswerth. Problematisch: Noch ist nicht einheitlich geregelt, was alles zur Ausbildung gehört. Eine grundständige Ausbildung, also ohne vorherige Berufspraxis, wird erwogen.

Das Einstiegsgehalt liegt bei etwa 3700 Euro monatlich, nach zwei Jahren winkt oft ein Jahresgehalt um 58.000 Euro, so Daria Hunfeld, Vorstandschefin der Deutschen Gesellschaft für Physician Assistants. Das Berufsbild kommt aus den USA, dort gibt es schon rund 170.000 PAs, hier wächst die Zahl schnell. 2019 gab es erst 500 PAs, vergangenes Jahr waren es 1800, für 2026 wird mit 5400 PAs gerechnet. Die Ausbildung gilt als sehr praxisorientiert.

Erste Studien deuten darauf hin, dass mit einem oder einer PA in der Praxis die Zufriedenheit von Patient*innen wie den Ärztinnen und Ärzten steigt: Routinefälle werden schneller bearbeitet, für kompliziertere Fälle und längere Gespräche ist mehr Zeit. Kritisch gesehen wird das neue Berufsbild von Dr. Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vor allem im niedergelassenen Bereich. Noch sei die Refinanzierung des neuen Berufsbildes nicht hinreichend geklärt, er sieht den Einsatz von PAs eher in Kliniken, wo sich einfachere Tätigkeiten direkt vom Arzt an den oder die PA delegieren ließen.

Weil Medizin an der Uni studieren und Menschen behandeln eben zwei verschiedene Dinge sind. „Behandeln, da steckt das Wort Hand drin“, sagt Arens. Wer berührt, kuriert. Menschen fühlen sich wahrgenommen, angenommen und damit gut behandelt. Das schätzt er an seiner Physician Assistant. Dass sie eben über die Physis, über den Körper, Bescheid weiß und mindestens ebenso gut, aus den Jahren als MFA, wie es in einer Landpraxis zugeht.

Immer am Puls der Patientinnen und Patienten

Und, bedauert Lisa Janssen, dass sie keine „richtige“ Medizinerin ist? „Nein, gar nicht“, sagt sie. So sei sie viel näher dran am – im Wortsinne – Puls der Patienten. Und hat zudem, wenn sie unsicher ist, immer noch eine Instanz über sich: den studierten Mediziner, in diesem Falle Dr. Arens. So sehr er die Arbeit und den beruflichen Aufstieg von Lisa Janssen schätzt, weiß der auch: „Letztendlich sind auch die Physician Assistants nur eine Scheinlösung. Wir brauchen einfach viel mehr Menschen in allen pflegerischen und medizinischen Berufen.