Moers. Für Menschen mit Demenz ist vieles nicht mehr normal. Repelen in Moers hat sich aufgemacht, ein demenzfreundlicher Stadtteil zu werden.
Es ist Mittag. Ein normaler Alltag im Moerser Stadtteil Repelen. Drei Männer sitzen auf der Bank im Ortskern, gegenüber auf der Terrasse der „Kleinen Kneipe“ sitzen zwei Männer, gönnen sich ein Pils und eine Zigarette und plaudern miteinander. Eine ältere Frau steuert mit ihrem Rollator auf den Eingang der Sparkasse zu, andere erledigen ihre Einkäufe in den Supermärkten. Ein normaler Mittag in Repelen.
Doch diese Normalität ist irgendwann vielleicht nicht mehr da, wenn der tägliche Gang zum Arzt zu einer Herausforderung wird, man nicht mehr weiß, wo der Haustürschlüssel liegt oder wo sich eben die „Kleine Kneipe“, in der man einst gesessen hat, befindet. Etwa 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leben mit Demenz. Vor allem für Angehörige bedeutet diese Diagnose eine Herausforderung. Um auch sie zu unterstützen, hat sich Repelen aufgemacht, ein demenzfreundlicher Stadtteil zu werden. Ein Besuch.
Zur Erinnerung an den Steinkohlenbergbau
„Zur Erinnerung an den Steinkohlenbergbau in Moers Bergwerk Rheinland“ steht in weißen Lettern auf dem schwarzen Bauch der Lore. Die Bepflanzung in dem ehemaligen Bergbau-Karren sieht etwas karg aus, ein Teil ist vertrocknet. Erinnerung ist dabei durchaus wörtlich gemeint. „Es ist ein wichtiger Anker- und Orientierungspunkt“, sagt Albert Sturtz von der Fachberatung Demenz der Diakonie.
Solche Symbole sind wichtig vor allem für Menschen mit Demenz, denen mit der Zeit die Orientierung abhanden kommen kann. Überhaupt sind Piktogramme oder auch Markenembleme eine große Hilfe, wie Valerie Carré vom Bereich Älterwerden der Stadt Moers berichtet. Einen hohen Wiedererkennungswert haben ihrer Erfahrung nach Apotheken mit dem Äskulapstab und – etwas überraschend: Aldi.
Hilfreich wäre in Repelen daher auch ein Piktogramm für das öffentliche WC. Zwar weist ein Schild zur öffentlich zugänglichen Toilette, doch das passende Symbol dazu fehlt. Dazu kommt: Diejenigen, die mal müssen, stehen vor einer verschlossenen Tür, denn der passende Schlüssel müsste zunächst in der benachbarten Bäckerei geholt werden. Und wirklich gut zu finden ist der Toiletteneingang auch nicht. Die Hemmschwelle für die Nutzung der Toilette ist damit zu hoch.
Angst vor der Dunkelheit
Über die Straße geht es weiter zu einer der beiden Banken im Ort. Der Bürgersteig geht steil nach unten, für Senioren mit Rollatoren ist das eine kleine Herausforderung. Durch eine Drehtür gelangen Kundinnen und Kunden ins Gebäudeinnere, wenn sie sich denn trauen. Die Drehtür ist das erste Hindernis, vor allem ältere Menschen haben Sorge, zu fallen – zumal der Fußboden dunkel ist. „Menschen mit Demenz haben Skepsis, ins Dunkle zu treten“, erklärt Albert Sturtz. Auch zu viele Aushänge an Wänden können Demente verwirren. Eine Bank hat bereits Zettel abgenommen, nachdem sie davon erfahren hat.
Denn das war das Ziel des ersten Stadtteilrundgangs, den die Lokale Allianz für Menschen mit Demenz, ein Zusammenschluss verschiedener Initiativen, vor einigen Monaten organisiert hatte. Was den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufgefallen ist, wurde an die zuständigen Stellen weitergegeben. Dazu gehörte auch die fehlende Sichtbarkeit eines Arztes, Radwege, die aufgrund von Hindernissen auf dem Gehweg auch von Fußgängern benutzt werden und der Mangel an Bänken zum Ausruhen.
„Besonders die Nachkriegsgeneration fragt nicht gern um Hilfe.““
Der lokale Zusammenschluss organisiert aber nicht nur Rundgänge, sondern bietet im Seniorenbüro auch Sprechstunden an, organisiert Netzwerktreffen oder Nachmittage mit Kaffee und Kuchen. So erfahren die Akteurinnen und Akteure viel darüber, was Menschen mit Demenz oder ihre Angehörigen benötigen. Es komme auch schon mal vor, dass Menschen in Sprechstunden in Tränen ausbrechen, weil sie sich allein gelassen fühlen. Entlastung für Angehörige zu schaffen, sei eine wichtige Aufgabe, Angebote zu machen, um Belastungen aushalten zu können, Besuchsdienste anzubieten, bei einem Reha-Antrag zu unterstützen und Netzwerke zu schaffen.
Nachbarstädte beobachten das Projekt in Moers
Im Sozialraum Moerser Norden, zu dem neben Repelen auch die Stadtteile Meerfeld, Eicker Wiesen, Eick und Utfort gehören, leben nach der Statistik der Stadt insgesamt 11.050 Menschen über 55 Jahre, davon sind bereits 4.400 Menschen zwischen 65 und 79 Jahren. „Wir wollen genau darauf schauen, was ein demenzfreundlicher Stadtteil braucht“, sagt Albert Sturtz.
Dazu gehört auch, Akteure im Stadtteil wie die Café-Bedienung oder die Supermarkt-Kassiererin zu sensibilisieren. Wenn jemand seinen Kaffee im Bistro schlürft oder sich merkwürdig verhält, kann es sein, dass er dement ist. Mit diesem Wissen wird das Verhalten womöglich anders bewertet und den Menschen verständnisvoller begegnet. Nachbarstädte beobachteten das Projekt durchaus mit Interesse, meint Sturtz.
Die nationale Demenzstrategie
Die vorgestellten Projekte in Moers und der Städteregion Aachen sind Teil der Nationalen Demenzstrategie, ebenso wie der Aufbau eines nationalen klinischen Demenzforschungsnetzwerks. Die aktuelle bundesweite Bilanz zeigt, dass Ende des Jahres 2023 mehr als die Hälfte der angekündigten Maßnahmen abgeschlossen worden sind (54 Prozent), das entspricht einer Steigerung von 22 Prozent gegenüber Vorjahr, wie es in dem Bericht heißt.
„Die Nationale Demenzstrategie ist ein starkes Bündnis von Akteuren, die das Leben der Menschen mit Demenz und ihrer An- und Zugehörigen verbessern wollen. Dazu setzen wir die Maßnahmen um, die in der Nationalen Demenzstrategie vereinbart sind und fördern die öffentliche Auseinandersetzung mit Demenz, von der 1,8 Millionen Menschen in Deutschland direkt betroffen sind“, betont Bundesfamilienministerin Lisa Paus die Bedeutung.
„Die Menschen sollen so früh wie möglich zu uns kommen“, appelliert der Demenz-Fachberater. Denn: Dass jemand an Demenz erkrankt ist, stellen viele häufig erst spät fest. Daher sei es wichtig, sich frühzeitig für den Ernstfall zu wappnen und sich darüber zu informieren, welche Angebote es für Betroffene und Angehörige gibt. „Besonders die Nachkriegsgeneration fragt nicht gern um Hilfe“, weiß er aus Erfahrung. „Und Männer wenden sich später als Frauen an uns“, ergänzt Valerie Carré.
Sie rät dazu, spätestens dann zu handeln, wenn Angehörige erste Verhaltensveränderungen feststellen und Routinen einbrechen; wenn Schlüssel neuerdings immer wieder verlegt, bekannte Personen nicht erkannt, Termine nicht eingehalten werden.
Ministerin Paus: Menschen mit Demenz sollen gesehen werden
Auch im Raum Aachen hat sich die Lokale Allianz auf den Weg gemacht, demente Menschen frühzeitig zu unterstützen. Dort wurden und werden „Mutmacherinnen“ ausgebildet, die Menschen nach der Diagnose Demenz im Alltag mit Rat und Tat begleiten, in einer Phase also, die stark von Verunsicherungen und Ängsten geprägt ist.
Diese Projekte sind Teil der Nationalen Demenzstrategie, die die Bundesregierung vor vier Jahren beschlossen hat. Sie beinhaltet ein Bündnis von Akteuren, die eigenverantwortlich vereinbarte Projekte teils mit Fördergeldern umsetzen.
„Ich möchte, dass Menschen mit Demenz gesehen werden und teilhaben können. Dazu brauchen wir eine Gesellschaft, die Betroffene und Angehörige unterstützt, mit den nachlassenden Fähigkeiten umzugehen – aber vor allem eine Gesellschaft, die die verbleibenden Fähigkeiten sieht und zu nutzen versteht“, sagt Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) gegenüber der Redaktion.