An Rhein und Ruhr. Die Landespolitik will mit dem Friedensdorf verwundete Kinder in NRW-Kliniken behandeln lassen. Warum das schwierig ist.
Anfang Mai setzt der Landtag in Düsseldorf ein Zeichen. CDU, SPD, FDP und Grüne beschließen gemeinsam eine Solidaritätsadresse für Israel und für die Menschen, die unter dem Krieg in Gaza leiden. In dem Antrag heißt es auch: Es wäre begrüßenswert, wenn verletzte Kinder aus dem umkämpften Landstrich in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern behandelt werden könnten. Zu diesem Zeitpunkt laufen bereits seit Monaten hinter den Kulissen Verhandlungen über eine Aufnahme kriegsversehrter Gaza-Kinder. Das aber gestaltet sich schwierig.
Im Dezember vergangenen Jahres demonstrieren palästinensische Ärzte und Apotheker vor dem Landtag. Sie fordern Hilfe für die Menschen, die im umkämpften Gaza-Streifen leiden. „Sie haben mir geschildert, wie katastrophal die Situation ist“, erinnert sich Josef Neumann, SPD-Abgeordneter und Vorsitzender des Gesundheitsausschusses. Schnell reift der Entschluss, verletzte Kinder aus dem Kriegsgebiet zu holen.
Alle Landtagsfraktionen sind eingebunden - bis auf die AfD
Eingebunden sind alle Fraktionen (bis auf die AfD), das Landesgesundheitsministerium und die Staatskanzlei. Die Beteiligten sondieren, ob es Krankenhäuser in NRW gibt, in denen die Patienten kostenfrei behandelt werden könnten. Über 30 erklären sich dazu bereit, berichtet Neumann. Eigentlich ist Vertraulichkeit vereinbart, um das Projekt nicht zu gefährden. Mitte April geht Europaminister Nathanael Liminski (CDU) dennoch in die Öffentlichkeit: Man wolle mit dem „Know-how unserer Krankenhäuser bei der Versorgung schwer verwundeter Kinder und Jugendlicher“ helfen, sagt er dem „Kölner Stadtanzeiger“.
Am Donnerstag sitzt Neumann in einem Büro des Friedensdorf International in Oberhausen. An seiner Seite: Birgit Stifter, Leiterin der Hilfsorganisation, und Claudia Peppmüller, die Kommunikationschefin. Das Friedensdorf soll das Hilfsprojekt umsetzen, so steht es auch im Landtagsbeschluss aus dem Mai. Die Organisation holt seit Jahrzehnten Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten zur Behandlung nach Deutschland.
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Beim Gaza-Krieg vor zehn Jahren gelang es den Oberhausener Helfern, 42 Kinder nach Deutschland zu bringen. Auch 2016 kamen Gaza-Kinder nach Deutschland. Die kleinen Patienten kehrten alle nach ihrer Behandlung zu ihren Familien zurück. „Wir bekommen oft die Frage gestellt, warum wir jetzt nicht in Gaza helfen“, sagt Stifter. Die Antwort ist kompliziert.
Sofort nach Beginn des aktuellen Gaza-Krieges loten die Helfer aus, was machbar ist. Sie erhalten immer wieder Listen behandlungsbedürftiger Kinder. Die Lage im Gazastreifen ist aber eine völlig andere als vor zehn Jahren. „Die Lage ist sehr instabil, unser lokaler Partner, den wir 2014 hatten, ist nicht mehr vor Ort. Außerdem haben die Gesundheitsbehörden vor Ort die Auflage gemacht, dass mindestens ein Elternteil mitreisen muss, falls verletzte Kinder aus Gaza nach Deutschland kommen“, erklärt Peppmüller. Letzteres ist derzeit das größte Problem.
Kinder dürfen nur ohne Begleitung nach Deutschland kommen
„Das ist nicht unser Konzept“, erklärt Stifter. Nach der Behandlung im Krankenhaus erholen sich die Kinder auf dem Gelände des Friedensdorfes. Es ist wie eine große Jugendherberge. Die Kinder werden physiotherapeutisch betreut, die medizinische Nachsorge nach Operationen wird von Fachpersonal gewährleistet. Für die Kinder, die ins Friedensdorf kommen, gilt die staatliche Auflage: Sie dürfen maximal 12 Jahre alt sein und müssen ohne Begleitung kommen.
Der Gedanke dahinter: Kommen Mütter oder Väter mit, könnten sie Asyl beantragen und über den Familiennachzug weitere Verwandte nach Deutschland holen. Die Kinder allein zu holen, habe nie ein Problem dargestellt, bekräftigt Stifter: „Sie haben am Anfang Heimweh, finden aber eine Gemeinschaft auf Zeit und Geborgenheit.“ Das sei auch bei den Gaza-Kindern 2014 so gewesen.
Ägyptische Mediziner bitten um Unterstützung
Ende Mai reisen Neumann und die Vertreter des Friedensdorfes nach Ägypten. Das Land hat zu diesem Zeitpunkt etwa 700 verletzte Gaza-Kinder und ihre Familien aufgenommen. Neue Patienten kommen nicht mehr nach, seit der Grenzübergang Rafah wenige Wochen zuvor geschlossen worden ist. Eine Ausreise verletzter Kinder aus Gaza sei deswegen „aus faktischen Gründen nicht möglich“, heißt es aus deutschen Regierungskreisen. Es könnten also nur Gaza-Kinder aus Ägypten nach Deutschland reisen.
In Gesprächen mit ägyptischen Behörden kristallisiert sich für die Deutschen heraus, dass die Ägypter ebenfalls auf eine begleitete Ausreise der Kinder beharren – und dass sie eine Rückkehr ausschließen.
In Al-Arisch, etwa 70 Kilometer westlich vom Gazastreifen entfernt, besucht die Delegation ein Krankenhaus. Die ägyptischen Mediziner machen den Deutschen klar, dass sie überfordert sind, vor allem, weil es ihnen an Material mangelt. „Wir wollen deshalb die Gesundheitsversorgung vor Ort unterstützen“, erklärt SPD-Politiker Neumann. Die Idee sei, Medikamentenpakete, mobile Ambulanzen und Prothetik-Projekte in Ägypten zu installieren, um den verletzten Gaza-Kindern zu helfen und die ägyptischen Mediziner zu entlasten.
Heftige Kritik an der Haltung der Bundesregierung
In Deutschland kocht im Juni und Juli die Debatte hoch: Die Bundesregierung beharrt zunächst weiter auf der unbegleiteten Einreise der Kinder. Die „Tagesschau“ zitiert Regierungskreise, wonach Sicherheitsbedenken bestehen, sollten Erwachsene mitreisen; die Befürchtung ist, es könnten Hamas-Mitglieder nach Deutschland kommen. Die Helfer vom Friedensdorf können die Argumentation der Bundesregierung nachvollziehen. Andere Hilfsinitiativen aber werfen Berlin eine Verweigerungshaltung und unterlassene Hilfeleistung vor.
Der Koordinierungsrat der Muslime (KRM) spricht von einer „humanitären Bankrotterklärung“. Die Bedingung, dass Gaza-Kinder nur unbegleitet einreisen dürften, werde ihre Traumatisierung verschärfen und wäre „für Kinder aus anderen Krisenregionen undenkbar und unvorstellbar“. Eine Aussage, die schlicht falsch ist, wie sich im Friedensdorf zeigt, wo Kinder aus sieben Nationen wie Afghanistan und dem Irak ohne Begleitung ihrer Eltern betreut werden.
Bundesregierung lenkt ein - vielleicht doch weibliche Begleitpersonen
Die Proteste zeigen aber Wirkung, die Bundesregierung rückt von ihrer Linie ab. „Gerade bei traumatisierten oder kleineren Kindern ist eine vertraute Bezugsperson wichtig“, heißt es jetzt aus Regierungskreisen. Deshalb stimme man sich derzeit ab, „unter welchen Voraussetzungen in Ausnahmefällen auch eine Einreise von weiblichen Begleitpersonen realisiert werden kann“.
Für die Helfer vom Friedensdorf ist das aber keine Option. „Es wäre den Kindern aus den anderen Ländern nicht zu erklären, warum plötzlich Kinder mit ihren Müttern kommen dürfen“, erklärt Claudia Peppmüller. Und sollten Begleitpersonen tatsächlich Asyl beantragen, könnte das die gesamte Arbeit des Friedensdorfes gefährden.