An Rhein und Ruhr. Ein Opfervertreter, ein Richter und ein Häftling erklären ihren Blick auf Recht und Gerechtigkeit.
Für das vergangene Jahr zählt die Kriminalstatistik in NRW rund 1,37 Millionen Straftaten. 1,37 Millionen Straftaten bedeuten Hunderttausende von Opfern. Etwa jedes zweite Delikt konnte aufgeklärt werden. In den Gefängnissen an Rhein und Ruhr sitzen jene Menschen, die verurteilt wurden, weil sie eine Straftat begingen oder die in Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten. Es sind im Jahresschnitt knapp 14.000. Kann der Rechtsstaat für Gerechtigkeit sorgen? Darüber sprach die NRZ mit einem Häftling, einem ehemaligen Richter und dem Landeschef des Weißen Rings, der sich für die Opfer von Straftaten einsetzt.
Die Stimme der Opfer
Im vergangenen Jahr hat der Weiße Ring in Nordrhein-Westfalen 4141 Menschen betreut, die Opfer von Straftaten wurden. Es ist nur ein Bruchteil der tatsächlich Betroffenen. Bernd König ist der Landesvorsitzende des Weißen Rings.
„Es kann eigentlich keine Gerechtigkeit für Opfer geben“, sagt er. Der Schmerz über das Erlittene bleibe immer, auch wenn der Schaden wie nach einem Einbruch nur ein materieller sei. Gerichtsurteile könnten diesen Schmerz allenfalls lindern. Häufig sagt König, und das liegt in der Natur der Sache, wünschten sich Opfer höhere Strafen für die Menschen, die ihnen Leid zugefügt haben. Andere wiederum könnten mit den Urteilen leben. Eines bleibe aber für alle Betroffenen: „Wenn man ein Opfer einer Straftat geworden ist, bleibt man das auch nach einem Urteil, mit dem man eigentlich einverstanden ist.“
König sagt auch: Es verbiete sich für ihn, Urteile zu kommentieren, wenn die Öffentlichkeit oder Opfer den Eindruck hätten, sie seien zu milde ausgefallen. „Es ist etwas völlig anderes, bei einem Hauptverfahren anwesend zu sein und nachvollziehen zu können, warum ein Gericht ein Urteil gefällt hat, oder davon in der Zeitung zu lesen.“
Auch wenn ein Opfer nicht mit einem Urteil einverstanden sei, sei es für die von einer Straftat Betroffenen extrem wichtig, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen werde: „Das gibt eine gewisse Genugtuung. Es zeigt dem Opfer, dass der Täter nicht ungeschoren davonkommt.“ Besonders wichtig sei das dann, wenn Opfer von Selbstzweifeln geplagt würden und sich fragten, ob es richtig gewesen sei, den Peiniger anzuzeigen. Eine Verurteilung zeige, dass man im Recht gewesen sei.
Andererseits können Urteile auch belastend für Opfer sein, sagt König: „Wenn jemand der Vergewaltigung angezeigt wird und es zu einem Freispruch kommt, weil Aussage gegen Aussage steht, kann das einen psychischen Knacks verursachen.“
Vor einigen Jahren hat König noch als ehrenamtlicher Helfer die Opfer von Straftaten betreut. Unter diesen Menschen sei niemand gewesen, der nach alttestamentarischer Rache gemäß dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ verlangt habe. Das Vertrauen in das Rechtssystem ist groß.
Der ehemalige Richter
In seiner langen Karriere als Richter hat Ulrich Knickrehm kein Urteil gefällt, das er im Nachhinein als ungerecht empfunden hat. „Das Wichtigste ist, von dem zutiefst überzeugt zu sein, was man tut“, sagt er. Knickrehm (66) hat die schwarze Robe fast 30 Jahre lang getragen. 2015 hat er sie an den Nagel gehängt, als er in die Politik gegangen ist. Heute ist er Bürgermeister der Stadt Goch.
Die letzten 13 Jahre als Richter war er Vorsitzender der Schwurkammer am Landgericht in Kleve. Die Schwurkammer verhandelt „Straftaten von besonderem Gewicht“. Mord und Totschlag. Knickrehm hat immer wieder in die Abgründe der menschlichen Seele geschaut und Hunderte Menschen zu Haftstrafen verurteilt.
Es waren viele spektakuläre Fälle dabei, die Schlagzeilen machten. Die Frau, die eine Nachbarin, mit der sie zerstritten war, mehrfach überfuhr und ihr dann den Hals durchschnitt, um sicherzugehen, dass sie nicht mit dem Leben davonkommt. Der Familienvater, der seine Frau vor den Augen der Kinder abschlachtete, im Hof des Landgerichts von seinem Sohn angeschossen wurde und daraufhin querschnittsgelähmt war. Die beiden jungen Männer, denen befohlen wurde, einen älteren Mann zu töten, und die nach der Tat verzweifelt waren.
Jeder Prozess ist ein Antasten an die Wahrheit, das Ringen darum, ein gerechtes Urteil zu fällen. „Das Recht, das man als Richter anzuwenden hat, ist ein abstraktes Recht. Wir als Richter versuchen dieses Recht auf konkrete Lebenssachverhalte anzuwenden“, sagt Knickrehm. Das Gesetz gibt nur einen groben Rahmen vor. Für eine Vergewaltigung beispielsweise liegt dieser Rahmen bei einer Strafe von zwei bis 15 Jahren.
„Es ist unsere Hauptaufgabe im Rahmen des Strafmaßes eine gerechte Strafe zu finden.“ Richter müssen bei der Strafzumessung alle Umstände berücksichtigen. Die Persönlichkeit des Angeklagten und seine Geschichte. Seine Vorstrafen. Seinen Zustand bei der Tat. Die Tat selbst. Das Opfer. „Die Anforderungen an die Begründung eines Urteils sind extrem hoch.“
Knickrehm ist überzeugt: Wenn gut ausgebildete Richter ihre Verhandlungen mit dem nötigen Ernst und der angemessenen Sorgfältigkeit führen, dann garantiert das deutsche Strafrecht Gerechtigkeit. Auch, wenn es immer wieder Fälle von Justizirrtümern gebe: „In Einzelfällen kann es massives Unrecht geben.“
So überzeugt er davon ist, dass er selbst niemals ein ungerechtes Urteil gefällt hat, räumt er doch ein: „Wovon man als Richter nicht immer überzeugt ist, sind einzelne gesetzliche Regelungen.“ Aber innerhalb dieser Regeln müssen sich Richter bewegen.
Der Häftling
Wenn er das Große und Ganze in den Blick nimmt, dann hat Christian Opgenhoff das Gefühl, dass es nicht gerecht zugeht. Der Vater früh gestorben, die Mutter früh gestorben, Pflegefamilie, Heim. „Wäre das anders gewesen, hätte ich eine andere Laufbahn gehabt“, glaubt er. Die Laufbahn, für die er sich entschieden hat, hat den 32-jährigen hinter Gitter gebracht. Opgenhoff sitzt in der Klever JVA eine dreijährige Haftstrafe wegen Diebstahls mit Waffen und Raubes ab. „Angeblichen Raubes“, sagt er.
Opgenhoff ist ein großer, muskulöser junger Mann, seinen Vornamen hat er sich auf den linken Unterarm tätowieren lassen. Er trägt Bart und Brille. Der Besucherraum, in dem er sitzt, riecht nach Reinigungsmitteln und ist von schlichter Kargheit. Das Fenster ist vergittert. Der 32-Jährige sitzt im Klever Gefängnis seit April 2021 ein. Es ist nicht sein erster Aufenthalt in diesem Knast. Insgesamt hat er schon 13 Jahre abgesessen. Diebstahl, Raub, Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Gefängnismeuterei. „Ich war früher ziemlich auf Krawall gebürstet.“
Ein Antreiber für seine kriminelle Karriere war seine Sucht nach Amphetaminen. Vor knapp zehn Jahren ist er im Milieu selbst zum Opfer geworden, da haben ihn drei Leute überfallen und zusammengeschlagen, erzählt er. Seitdem ist er schwerbehindert, die Hüfte und die Knie sind kaputt.
Im Prinzip, sagt Opgenhoff, sei es schon gerecht, dass er so oft zu Haftstrafen verurteilt worden ist. „Ich habe ja auch viel Scheiße gebaut.“ Mit seiner aktuellen Haftstrafe hadert er aber. Bei einem der Anklagepunkte, dem Raub, da habe sogar die Staatsanwaltschaft mangels Indizien auf Freispruch plädiert und für den bewaffneten Diebstahl zehn Monate gefordert. Das Gericht sah es anders und brummte ihm drei Jahre auf.
Opgenhoff sagt auch, das Geld, das er als Schwerbehinderte erhalte, reiche zum Leben nicht. Soweit wie viele andere Gefangene geht er aber nicht: „Hier drin gibt es viele, die sagen, dass sie unschuldig sind und zu Unrecht verurteilt wurden.“ Er hingegen stehe zu dem, was er getan habe.
Opgenhoff ist ein Sprecher der Gefangenmitverantwortung, das ist so etwas wie ein Betriebsrat der Inhaftierten. Er wirbt für Änderungswünsche auf der Einkaufsliste ein oder dafür, dass es eine Fußball-Hausmannschaft gibt. „Ich setze mich für Gerechtigkeit im Gefängnis ein.“ Gerechtigkeit, sagt er schließlich, die gebe es schon. „Nur leider in meinem Leben noch nicht. Und jeder hat ja das Leben auf seine eigene Weise kennengelernt.“