An Rhein und Ruhr. Warum Energieexperte Christian Doetsch keine große Gefahr für langfristige Stromausfälle sieht und wo die Politik in geschlafen hat.

Die Energieversorgung in Deutschland ist spätestens seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar eines der größten Gesprächsthemen im Land. Sind Sorgen um einen Blackout, einen flächendeckenden Stromausfall gerechtfertigt? NRZ-Redakteur Marcel Sroka sprach mit Christian Doetsch, Leiter des Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik Umsicht in Oberhausen und Professor an der Fakultät für Maschinenbau der Ruhr-Universität Bochum, über die Versorgungssicherheit, Versäumnisse der Politik, die Zukunft der Energie und Chancen des Ruhrgebiets.

Herr Professor Doetsch, wie ist es um die Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland gestellt?

Doetsch: Die Gefahr von flächendeckenden, lang anhaltenden Blackouts sehe ich derzeit – und da gehe ich mit vielen Expertinnen und Experten mit – nicht. In Deutschland produzieren wir zehn Prozent mehr Strom, als wir verbrauchen. Nach Frankreich exportieren wir in diesem Jahr etwa die Größenordnung der Leistung von ein bis zwei Atomkraftwerken. Die Netze sind stabil. Unvorhergesehene Situationen, da denke ich vor allem an Cyberattacken, lassen sich natürlich nicht ausschließen.

Das klingt so, als könnten wir uns relativ entspannt zurücklehnen. Täuscht dieser Eindruck?

Strom ist nur ein Teil der Energieversorgung, eines von drei sogenannten energetischen Grundbedürfnissen. Zu diesen Bedürfnissen gehören aber ebenso Wärme und Mobilität. Auch wenn wir durch den Ausbau der Erneuerbaren Energien bereits bis zu 50 Prozent des Stroms selbst erzeugen, sind wir bezogen auf alle Bereiche der Energieversorgung auf Importe angewiesen, seien es Erdgas für die Wärmeerzeugung oder Benzin/Diesel für die Mobilität. 80 Prozent der in Deutschland insgesamt benötigten Energien werden importiert. Nahezu alles an fossilen Brennstoffen, was nicht Braunkohle ist, und hier wurde von der Bundesregierung ja der Ausstieg aus dem Abbau beschlossen, kommt aus dem Ausland. Das heißt, es ist notwendig, Anstrengungen zu unternehmen, weiter Energie einzusparen. Ein milder Herbst und ein ebenso milder Winter helfen natürlich dabei, vor allem die privaten Verbräuche zu senken.

Prof. Christian Doetsch ist seit August 2022 Institutsleiter am Fraunhofer Umsicht.
Prof. Christian Doetsch ist seit August 2022 Institutsleiter am Fraunhofer Umsicht. © Fraunhofer UMSICHT | Mike Henning

Sehen Sie in diesem Zusammenhang Versäumnisse der Politik in den vergangenen Jahren?

Wir haben uns zu lange auf den billigen Gasimporten aus Russland ausgeruht und wurden dadurch träge. Die Wärmewende, damit ist unter anderem die Nutzung von Erneuerbarem Strom als Wärmequelle gemeint, haben wir durch das billige Gas etwa komplett verschlafen. Die Sanierungsrate der Gebäude im Land von einem Prozent pro Jahr bezogen auf die energetische Effizienz ist leider sehr gering. Viele Gesetze haben zudem den Ausbau von Windkraft, Solarkraft und weiteren Erneuerbaren Energien eher behindert als tatsächlich gefördert, da die gesetzlichen Regelungen oft überkompliziert und nicht attraktiv waren. In Deutschland werden wir sicherlich nie zu 100 Prozent unabhängig von Energieimporten sein, wir könnten aber schon deutlich weiter als heute sein.

Und nach dem russischen Überfall auf die Ukraine? Wurden nun die richtigen Schlüsse gezogen?

In der aktuellen Situation wurde meiner Meinung nach seitens der Bundespolitik schnell reagiert. Von meinen Kontakten in der Industrie wird mir gespiegelt, dass das auch dort so gesehen wird. Natürlich hat nicht jede umgesetzte Maßnahme sofort zu 100 Prozent getroffen, aber es wurde schnell nachgebessert. Ein Beispiel sind die LNG-Terminals (Anm. der Red.: Flüssiges Erdgas), die schnell auf den Weg gebracht wurden und uns weiterhelfen werden, unabhängiger vom Erdgas zu werden. Eine gute Entwicklung ist es, die Import deutlich zu diversifizieren und nicht mehr auf einzelne, leider oft autokratische Staaten angewiesen zu sein.

Fernreisen mit dem Flugzeug, Fahrten mit dem Auto zur Arbeit, Wärme und Strom im Haus, wann immer er gewollt ist: Werden wir so weitermachen können wie bisher?

Die Zukunft ist elektrisch. Wir werden mehr Stoffe, die in der Wirtschaft dringend benötigt werden, synthetisch erzeugen müssen. Dies gelingt etwa beim Wasserstoff schon in gewissen Rahmen. Größtverbraucher auf den Strom bezogen – wie beispielsweise Teile der Grundstoffindustrie – werden aber vielleicht nicht in Regionen gehalten werden können, in denen zu wenig Strom selbst erzeugt wird. Bevor wir nennenswert in die Elektromobilität einsteigen können, müssen dafür die Netze vorhanden sein. Denn um E-Fahrzeuge schnellzuladen, werden relativ hohe Leistungen benötigt. Das kann in Spitzen für Probleme sorgen, lässt sich aber beheben. Flugzeuge und Schiffe können perspektiv mit synthetischen Kraftstoffen betrieben werden, das ist aber ein etwas entfernterer Zeithorizont. In Zukunft werden wir nicht nur effizienter und CO2-freier Energie nutzen müssen, sondern auch sparsamer.

Unabhängigkeit, dieses Wort würde ich gerne aufgreifen: Wie sieht die Energieversorgung der Zukunft im Land aus? Wie weit entfernt sind wir davon, uns selbst versorgen zu können?

Es ist in vielen Bereichen keine Raketenwissenschaft und schon mit heute verfügbaren Technologien müssten wir nicht mehr so stark auf fossile Energieträger angewiesen sein, wie es aktuell der Fall ist. Ein Beispiel sind elektrische Wärmepumpen. Theoretisch könnten wir sehr viele Wohngebäude in der Republik elektrisch über solche Pumpen beheizen. Im Einzelnen gibt es bestimmt Fälle, wo dies nicht sinnvoll ist, aber das ist ein verschwindend geringer Teil. Große Windparks im Norden, auch vor der Küste (Off-Shore) gelegen, werden ihren Beitrag leisten, dafür müssen wir die Übertragungsnetze ausbauen. Zudem gibt es in den südlichen Bundesländern noch Möglichkeiten des Ausbaus von Windkraft und Solaranlagen – wenn dort der politische Wille besteht. Ein Weg ist auch die Kraft-Wärme-Kopplung und der Transfer von Wärmeenergie per Fernwärme. Das wird etwa bei uns im Ruhrgebiet schon gut umgesetzt.

Beim Thema Ruhrgebiet: Wie sieht es denn in diesem Ballungsraum aus? Große Flächen für einen Ausbau der Windenergie oder große Solarparks gibt es dort nicht.

Das Ruhrgebiet wird weithin oft als „strukturschwache“ Region wahrgenommen. Wir haben hier die Situation, dass sehr viele Menschen auf engem Raum leben, dass Industriebetriebe viel Energie (Strom und Wärme) benötigen, aber leider auch die Investitionsmittel oft etwas begrenzt sind. Womit wir aber wuchern können, ist die Infrastruktur. Wir haben ein gut ausgebautes Autobahnnetz, sind über den Rhein beispielsweise an den Hafen in Rotterdam angebunden, mit Duisburg als einem lokal sehr wichtigen Logistikstandort. Zudem wird in den Ausbau der Eisenbahnen investiert, Stichwort Eiserner Rhein. Gaspipelines sind ebenso vorhanden. Im Großen und Ganzen sehe ich auch eine große Bereitschaft in der Bevölkerung für Infrastrukturmaßnahmen. Aber natürlich wird das Ruhrgebiet auf Energielieferungen aus dem Umland angewiesen sein. Vor Ort können wir aber unser Potenzial noch bei der Photovoltaik ausnutzen. Es gibt so viele Gebäude, auf deren Dächern eine Anlage möglich wäre, die bislang aber ungenutzt sind. Doch gibt es Hindernisse. Wir selbst bei Umsicht wollen etwa eine Anlage errichten, als gemeinnütziger Verein dürfen wir jedoch keinen Gewinn erzielen, was problematisch bei der Einspeisung ist. Aber da finden wir wohl eine Lösung.

Christian Doetsch wurde 1969 in Oberhausen geboren. Er ist promovierter Chemieingenieur und seit mehr als 25 Jahren in der Energieforschung tätig. Spezialisiert ist er unter anderem auf Energiespeicher und den Bereich „Power-to-X-Technologien“. Damit ist, vereinfacht gesprochen, die Speicherung bzw. anderweitige Nutzung von Stromüberschüssen durch eine Umwandlung, etwa in Wasserstoff, gemeint. Doetsch ist Inhaber des Lehrstuhls für „Cross Energy Systems“ an der Fakultät für Maschinenbau der Ruhr-Universität Bochum. Seit 1995 ist der Oberhausener am Fraunhofer Umsicht in verschiedenen Funktionen beschäftigt und leitete bis zur Übernahme der Institutsleitung im August 2022 den Bereich Energie. Das Fraunhofer Umsicht wurde im Juni 1990 gegründet, sein Stammsitz in Oberhausen liegt in der Neuen Mitte, nicht weit vom Einkaufszentrum Centro entfernt. Geforscht wird vor allem in den Bereichen Energie- und Rohstoffwirtschaft.