An Rhein und Ruhr. In der Corona-Zeit hat die Zahl der Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen. Warum gerade Mädchen besonders gefährdet sind.
Sophie (Anm. Red.: Name geändert) kann seit Monaten an nichts anderes mehr denken als ans Abnehmen. Früher wog das 13-jährige Mädchen 52 Kilogramm. Mittlerweile sind davon nur noch 38 Kilo übrig. Bei einer Größe von 1,65 Metern. Die Stimme der Schülerin klingt gedrückt, sie wirkt zurückhaltend, fast ängstlich. Für Johannes Hebebrand ist klar: Sophie leidet unter einer Essstörung.
Der Mediziner ist Ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am LVR-Klinikum Essen. Nicht nur dort sei die Anzahl der Patienten mit psychischen Erkrankungen während der Corona-Zeit deutlich gestiegen. Das bestätigt auch die Landesstelle für Essstörungen in Nordrhein-Westfalen auf NRZ-Anfrage. Genaue Zahlen seien noch nicht erfasst. Einige Zentren würden aber Zahlen erheben, ein Zusammenschluss ergebe jedoch eher Schätzungen.
Landesfachstelle Essstörungen NRW: Mehr junge Mädchen betroffen
Insgesamt würden die betroffenen Patienten jedoch immer jünger werden. „Bisher war es so, dass der Beginn der Erkrankung ab ungefähr dem 14. Lebensjahr stieg“, berichtet Petra Krause, Diplompsychologin und Leiterin der Landesstelle Essstörungen. Jetzt gebe es schon viele 12 Jahre alte und jüngere Patienten, die meisten weiblich. Einen Eindruck, den auch Johannes Hebebrand teilt. Häufig würden vor allem Mädchen erkranken, die sehr strebsam und intelligent sind. Er ergänzt: „Die Jugendlichen sind ernster krank als noch vor der Pandemie.“
Gründe dafür gibt es viele. „Angesichts der Pandemie aber auch wegen des Klimawandels haben einige Mädchen überlegt, wie sie mehr Gesundheit anstreben können und dadurch auch die CO2-Belastung reduzieren können. Sie haben angefangen sich im Internet zu informieren“, erklärt Hebebrand die typischen Anfänge einer Essstörung. Auch Sophie habe durch Lockdowns und Homeschooling viel Zeit mit den Sozialen Medien verbracht, vor allem bei YouTube. Immer wieder habe sie sich Fitness-Videos angesehen, eben auch, um sich während der Pandemie gesünder zu ernähren. Zusätzlich habe sie sich durch die Pandemie enormen Stress ausgesetzt gefühlt und hatte viel mehr Zeit sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dann geriet sie „in den Strudel der Magersucht“, wie Johannes Hebebrand es nennt. „Wenn solche strebsamen Mädchen etwas anpacken, dann richtig. Dann reicht es nicht nur ein paar Mal in der Woche Sport zu treiben. Die Ernährungsumstellung wird dann stringent durchgezogen.“
Essener Mediziner: Jugendliche können schnell Kontrolle über Essverhalten verlieren
Per se sei eine Umstellung der Ernährung im Hinblick auf Gesundheit und Klimawandel nicht schlimm. „Schlimm wird es erst, wenn Gewichtsabnahme hinzukommt“, so der Mediziner. Am Anfang sei dies für die Betroffenen sogar noch ein positiver Nebeneffekt: „Man fühlt sich besser und bekommt von Freunden oder der Familie sogar noch Bestätigung.“ Doch genau dadurch würden Mädchen, die einen hohen Anspruch an sich und ihre Vorhaben hegen, nur noch weiter beflügelt. „Bis es dazu kommt, dass sie sich Gewichtsziele setzen: Erst 50 Kilo, dann 45, dann 38“ – wie bei Sophie. „Wenn sie dann ehrlich sind, haben sie über das, was sie vorher toll fanden die Kontrolle verloren.“
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Je weiter dieses Denken voranschreitet, desto mehr körperliche Symptome verdeutlichen die Essstörung. Hebebrand nennt Haarausfall, ständiges Frieren oder das Ausbleiben der Periode als Beispiele für körperliche Symptome. „Psychisch entwickeln sich Ängste, Reizbarkeit und Depressionen in Folge des Hungers.“ Auch Sophie kennt diese Symptome. Doch sie hat sich Hilfe geholt, macht eine Therapie. Damit es bei anderen Kindern und Jugendlichen nicht erst so weit wie bei dem 13-jährigen Mädchen kommt, rät Hebebrand: „Wenn Eltern merken, dass sich ihre Kinder gesünder ernähren wollen oder auf einmal mehr Sport machen, sollten sie das Gewicht ihrer Kinder im Auge behalten und mit ihnen das Gespräch suchen, gegebenenfalls sich auch an einen Arzt wenden. Schnell kann die Falle einer Essstörung einfach zuschnappen.“