An Rhein und Ruhr. Die Barmer stellt das Thema Reizdarm in den Mittelpunkt ihres Gesundheitsberichts. Denn die Betroffenen haben oft eine teure Odyssee hinter sich.
Eigentlich fühlte sie sich entspannt und gut: Annette Voigt war gerade auf dem Rückweg von einem längeren Erholungsurlaub in einem Kloster in Österreich – da bekam sie heftiges Bauchweh, krampfartige Koliken. „Ich konnte mir zunächst keinen Reim darauf machen“, sagt die 64-Jährige. Sie ging zum Arzt – natürlich. Und bekam dann relativ schnell eine Diagnose. Ein Glücksfall.
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Denn bei diffusen Darmproblemen tappen die Mediziner oft lange im Dunkeln. Eine Qual für die Betroffenen – und ein finanzieller Kraftakt für die Krankenkassen.
Bis zu 2,3 Millionen Menschen in NRW leiden unter den Symptomen
Die Barmer hat deswegen das Thema „Reizdarm“ zum Schwerpunkt ihres aktuellen Gesundheitsberichtes gemacht. Denn die Dunkelziffer ist hoch: Es gibt etwa zehnmal mehr Reizdarm-Betroffene als entsprechende Diagnosen, schätzen die Fachleute. Bis zu 2,3 Millionen Menschen in NRW leiden unter den Symptomen, so die Barmer. Aber nur bei 225.000 Menschen wird die entsprechende Diagnose gestellt.
Reizdarm – wo Betroffene Hilfe finden können
Anhaltende Bauch- und Unterleibsschmerzen, veränderter Stuhl, Verstopfung, Krämpfe, Durchfälle – das sind Symptome, die auf einen Reizdarm hindeuten. Der Arzt muss bei der Diagnose andere Ursachen wie Infekte, Tumore, Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Entzündungen ausschließen.
Ein Ernährungstagebuch macht klar, worauf der Darm reagiert. Entspannungstrainings können helfen, den Umgang mit Stress zu verändern. Wichtig: Nicht in Kloweite verharren: Wandern, Schwimmen, Radfahren u.a. bringt auch den Verdauungstrakt in gesunde Bewegung.
Selbsthilfegruppen gibt es einige wenige. Zu erreichen über das Selbsthilfe-Büro in Bergisch Gladbach, Tel.: 02202/936 89 21. Online gibt es Hilfe über die Facebook-Gruppe „Reizdarm/Magen & Co“. Stefan Fast empfiehlt auch die englischsprachige Gruppe „ibssupport“.
Woran das liegt? Da gibt es verschiedene Gründe. „Darmprobleme sind immer noch ein Tabuthema“, sagt Heiner Beckmann, NRW-Landesgeschäftsführer der Barmer. Daran hat weder der Bestseller „Darm mit Charme“ von Giulia Enders noch jüngst ein Spiegeltitel etwas ändern können: Kaum einer redet gern über Durchfälle, Blähungen und Verstopfung – nicht einmal mit seinem Arzt. Und oft fangen Darmprobleme schon viel weiter oben an: mit Sodbrennen und Magendrücken.
Das große Risiko: die Menschen therapieren sich erst einmal selbst, Magensäurehemmer, Mittel für bessere Verdauung werden im Werbefernsehen angeboten. Der Darm mit seinen Millionen von bakteriellen Mitbewohnern wird schon zum zweiten Gehirn hochgejazzt, das Bauchgefühl von manchen für mindestens ebenso wichtig genommen wie der Verstand. Redensarten, etwas sei einem auf den Magen geschlagen, man habe bei diesem Projekt Bauchweh – sind weit verbreitet.
„Kinder haben immer Bauchweh, egal was ihnen eigentlich fehlt“, sagt der niedergelassene Gastroenterologe Ulrich Tappe, gleichzeitig Chefarzt an einer Klinik in Hamm.
So ähnlich ist es bei vielen Erwachsenen auch: Stress in Familie und Beruf, Antibiotika-Therapien, einseitige Ernährung – alles das sorgt bei vielen Menschen immer mal wieder für Beschwerden im Unterleib. Die Barmer registrierte zwischen 2005 und 2017 eine Steigerung der Diagnose „Reizdarm“ um rund 30 Prozent. Noch bemerkenswerter: Bei den 22-27-Jährigen stieg die Zahl der Reizdarm-Patienten sogar um 70 Prozent.
Stefan Fast ist einer von ihnen. Der 23-Jährige Lufthansa-Flugbegleiter aus Dülmen hatte sich vor anderthalb Jahren in Brasilien einen Darmparasiten eingefangen. Den ist der wieder losgeworden. Doch die Darmprobleme blieben, nach gefühlt tausend Stuhlproben und zahlreichen Magen- und Darmuntersuchungen blieb als Diagnose „Reizdarm“ übrig.
Eine Krankheit, die ihn nervt: „Man wacht morgens auf und denkt an seinen Darm und der letzte Gedanke abends vor dem Einschlafen ist auch der Darm“, sagt er. Im August will er mit seiner Schwester einen Ausflug nach Krakau machen. „Ich denke jetzt schon daran, wie ich mich dort ernähren kann und ob das klappt.“
„Es ist unser westlicher Lebensstil, der uns krankmacht.“
Er vermutet: „Es ist unser westlicher Lebensstil, der uns krankmacht.“ Kaiserschnitt, keine Muttermilch, Fertigprodukte – dennoch ist er froh, dass sein Arbeitgeber Lufthansa seine Flugwünsche weitgehend berücksichtigt: Er arbeitet derzeit nur Teilzeit, macht im Schnitt zwei Fernflüge pro Monat in die USA. „Dort bekomme ich im Supermarkt gluten- und laktosefreie Produkte und kann ohne Sprachbarriere im Restaurant gezielt bestellen. „Auf Reisen nach China oder Indien hilft eigentlich nur hungern oder sehen, dass man Nahrungsmittel mitnehmen darf“, sagt Fast. So versucht er, seinen nervösen Bauch in den Griff zu kriegen.
Neben dem klaren Anstieg der Diagnose „Reizdarm“ gerade in seiner Generation stehen die eher diffusen Symptome der Betroffenen. „Wir reden immer von einem Syndrom, wenn es keine klaren Ursachen gibt“, sagt Ulrich Tappe, Chefarzt einer Klinik für innere Medizin in Hamm. Die Folge, so die Barmer: Schon acht Jahre vor der Diagnose „Reizdarm“ verursachen die Patienten Kosten. Weil sie immer wieder mit diffusen Darmbeschwerden zum Arzt gehen. Die Barmer fürchtet: Oft werden sie mit warmen Worten und schnell verschriebenen Medikamenten therapiert. Die erschreckende Konsequenz, so die Untersuchung der Krankenkasse: etwa zehn Prozent der Reizdarmpatienten bekamen 2017 sogar schon Opiode verschrieben. Normalerweise reserviert für extreme Tumorschmerzen.
Was den Krankenversicherungen – neben der drastischen Steigerung der Fallzahlen – Kummer macht, hält er daher in einigen Fällen für geboten: Darmspiegelung, Computertomographien und ähnliches. Denn es gilt oft, mögliche andere organische Ursachen auszuschließen. Bei Annette Voigt beispielsweise zeigte sich neben dem Reizdarm auch noch eine Divertikulitis: entzündliche Ausstülpungen der Darmwand, die ebenfalls erhebliche Beschwerden auslösen.
„Wir können nicht sagen: Nehmen Sie das eine oder das andere Medikament.“
Annette Voigt indes hat ihren gereizten Darm mittlerweile meistens im Griff. „Es gibt immer mal wieder einen Schub, aber ich komme weitgehend klar.“ Sie hat allerdings auch getan, was die meisten Menschen scheuen: Ihre Ernährung und ihren Lebensstil weitgehend umgestellt. Dabei, so die Barmer in ihrer Analyse, ist vor allem die Ernährungsberatung und die Umstellung der Ernährung besonders wichtig.
Denn das ist ein weiteres Problem des Reizdarms: Für ein Syndrom mit so vielfältigen Beschwerden gibt es eben nicht das eine oder das andere Medikament. „ „Wir können nicht sagen: Neben Sie dieses Medikament dreimal täglich und dann wird es besser“, erläutert auch Dr. Tappe. „In vielen Fällen geht es um Ernährungsberatung und manchmal auch um psychotherapeutische Begleitung.“
Auch Annette Voigt hat über Wochen penibel notiert, was sie wann und wo gegessen hat und wie ihr Darm darauf reagiert hat.
Das sieht auch die Barmer so: „Eine reine Medikamentengabe ist der falsche Ansatz. Wichtig ist eine multidisziplinäre Therapie, bei dem Hausärzte und Internisten eng mit Schmerztherapeuten und zertifizierten Ernährungsexperten zusammenarbeiten. Auch die Psychosomatik spielt eine Rolle“, so die Barmer.
Annette Voigt hat das getan und ihr Leben umgestellt. „Wenn ich heute verreise, versuche ich immer, so zu planen, dass ich mir selbst etwas zu essen kochen kann“, sagt sie. Gedünstetes Gemüse, Ballaststoffe – sie ist vorsichtig geworden und hat auch ihren Lebensstil verändert, hatte die Chance in Vorruhestand zu gehen, macht Entspannungsübungen. Solche Lebensstilveränderungen sind aufwändig. Langjährige Essens- und Lebensgewohnheiten zu verändern, ist schwieriger als mal eben ein Medikament schlucken. Doch den Menschen, bei denen der Darm immer wieder reizt, bleibt nicht viel anderes übrig als auf ihr Bauchgefühl zu hören.