NRZ-Politikchef Jan Jessen ist zum vierten Mal seit Kriegsbeginn unterwegs in der Ukraine. Ein Zwischenbericht von der Fahrt Richtung Osten.
Irgendwo zwischen Riwne und Kiew erhält Oleg, unser ukrainischer Kollege, die freudige Nachricht. Er ist zum zweiten Mal Vater geworden, es ist wieder eine Tochter. Seine Frau Anna und er wollen sie Victoria nennen, und damit ist natürlich auch die Hoffnung auf den Sieg gegen die russischen Invasoren verknüpft. Oleg kann bei der Geburt seines Kindes nicht dabei sein. Seine Frau und seine dreijährige Tochter Ivana sind bei Ausbruch des Kriegs geflohen und leben jetzt in Dänemark. Es ist der 62. Kriegstag, und ich bin das vierte Mal seit der russischen Invasion in der Ukraine. Zusammen mit unserem Fotografen Reto Klar. An diesem Tag fahren wir in die ukrainische Hauptstadt, 550 Kilometer, ein ganzer Tag.
In den Kleinstädten im Westen erinnert wenig an den Krieg
Die Reise führt durch eine Landschaft, die an den Niederrhein erinnert, flaches Land, schwarze, fruchtbare Erde, auch Weiden gibt es hier. In den Dörfern und Kleinstädten im Westen erinnert wenig an den Krieg, abgesehen von den vielen Checkpoints. Ab und an weist Oleg aus dem Fenster und sagt: „Dahinten hat es vor kurzem Luftangriffe gegeben.“ Nach dem Abzug der russischen Armee aus den Vororten Kiews hat sich die Lage in der Hauptstadt entspannt.
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Wenige Kilometer vor der Millionen-Metropole sind auf und entlang der Autobahn M06 die Verwüstungen des Krieges sichtbar. Ein ausgebranntes Wrack eines russischen Panzers auf der Gegenfahrbahn. Häuser, in deren Dächer große Löcher klaffen. Zerstörte Raststätten und Tankstellen. Eine Brücke, die in Trümmern liegt. Vor den Resten der Brücke muss der Verkehr umgeleitet werden. Ein langer Stau bildet sich auf der Fahrbahn in die Stadt hinein.
Hundertausende Menschen sind wieder nach Kiew zurückgekehrt
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In den vergangenen Tagen sollen viele der Hunderttausenden Menschen, die Kiew nach Kriegsbeginn verlassen haben, wieder in die Stadt zurückgekehrt sein, berichten Oleg und eine Freundin. Viele Restaurants und Geschäfte sind wieder geöffnet. An den Checkpoints kontrollieren die Soldaten nur noch recht lässig, viele sind gar nicht mehr bemannt. Die stählernen Panzerigel stehen wie vergessener rostiger Schrott am Wegesrand.
In der Nacht vom 62. auf den 63. Kriegstag hat es keinen Luftalarm gegeben. Als die Sonne um 5 Uhr aufgeht, ist es in der ukrainischen Hauptstadt sehr still, nur die Vögel sind zu hören. Wenige Stunden heulen die Sirenen wieder. Am 63. Kriegstag fahren wir 450 Kilometer weiter nach Osten, nach Dnipro, wo die gerade die Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet ankommen. Wir wollen mit Menschen sprechen, die es aus Mariupol und anderen umkämpften Städten hinausgeschafft haben. Davon will ich Ihnen demnächst berichten.