An Rhein und Ruhr. Der Ukraine-Krieg bereitet vielen Menschen in NRW Sorgen. Prof. Martin Teufel von der Uni Duisburg-Essen nennt Gründe - und gibt Alltags-Tipps.

Der Krieg in der Ukraine löst bei vielen Menschen in NRW große Ängste aus. Die Zahl der Anrufe bei den Telefonseelsorge-Stellen steigt, immer mehr Bürger decken sich aus Furcht vor einem Atomkrieg mit Jodtabletten ein und auf ebay Kleinanzeigen kursieren Inserate, bei denen Interessenten nach einem Platz in einem Bunker suchen. Doch wie können wir uns vor irrationalen Angstvorstellungen schützen? Darüber sprach Reporter Dennis Freikamp mit Prof. Martin Teufel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin an der Uni Duisburg-Essen und Leiter der Traumaambulanz.

Warum macht uns der Ukraine-Krieg so große Angst?

Weil er viele Strukturen und Sicherheiten, die wir seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa aufgebaut haben, auf den Kopf stellt. Wir erleben eine totale Umkehr der Außen- und Verteidigungspolitik und haben es mit einem Alleinherrscher zu tun, bei dem es scheinbar kein Regulativ gibt. Das alles führt zu dem Gefühl einer massiven Unkontrollierbarkeit. Es gibt psychologisch betrachtet keinen klaren Ausweg. Man fühlt sich gefangen.

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Ähnlich wie zu Beginn der Corona-Pandemie?

Es gibt eine Parallele, ja. Was alle Katastrophen gemeinsam haben, ist der Kontrollverlust – und das löst gewisse Ängste bei den Menschen aus. Bei Corona hat es auch einige Monate gedauert, bis sich unsere Psyche allmählich an die neue Situation gewöhnt hat und bis wir gelernt haben, ein Stück Kontrolle zurückzugewinnen. Der Unterschied ist, dass wir es aktuell nicht mit einem Naturereignis oder einer Pandemie, sondern mit einer menschengemachten Katastrophe zu tun haben.

Inwieweit macht das einen Unterschied?

Wir wissen aus der Traumaforschung, dass menschengemachte Katastrophen bedrohlicher auf uns wirken als Naturereignisse. Das liegt daran, dass der Mensch eigentlich ein soziales Wesen ist. Wenn diese Gewissheit aber verloren geht, wenn Menschen sogar anfangen, aufeinander zu schießen, ist das in der Wahrnehmung eine ganz andere Gefahr als beispielsweise ein Erdbeben.

Prof. Martin Teufel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin an der Uni Duisburg-Essen und Leiter der Traumaambulanz.
Prof. Martin Teufel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin an der Uni Duisburg-Essen und Leiter der Traumaambulanz. © Unbekannt | LVR

Sind die Deutschen besonders „ängstlich“?

Ich tue mich schwer damit, einzelne Länder miteinander zu vergleichen. Ich glaube, da fehlen auch entsprechende Daten. Dass uns Deutsche der Ukraine-Krieg so sehr beschäftigt, hat eher transgenerationale Gründe. Viele von uns haben Eltern oder Großeltern, die im Zweiten Weltkrieg selbst in Osteuropa gekämpft haben. Einige sind bis heute traumatisiert. Und natürlich ist uns die Ukraine auch geografisch gesehen viel näher als Syrien oder Afrika.

Welche Personen sind anfällig für Angstvorstellungen?

Menschen, die psychisch krank sind oder bereits vorher eine gewisse Unsicherheit in ihrem Alltag verspürt haben. Bei diesen Personen kann der Kontrollverlust zu Handlungen führen, die zu einer Pseudo-Sicherheit führen. Das zeigt sich zum Beispiel bei Hamsterkäufen während der Pandemie oder indem sich Bürger aus Sorge vor einem Atomkrieg mit Jodtabletten eindecken.

Wie lassen sich solche irrationalen Einkäufe erklären?

Unsere Psyche baut sich ein Gerüst der Sicherheit. Und wenn diese Sicherheit nicht mehr vorhanden ist, versuchen wir, zumindest im kleinen Rahmen Kontrolle wiederherzustellen. Die Menschen wissen oft gar nicht, was genau Jodtabletten bewirken. Aber wenn sie schon nicht das „große Ganze“ kontrollieren können, wollen sie zumindest teilweise geschützt sein - selbst wenn wahllos eingenommene Jodtabletten sogar schädlich sein können.

Andere Menschen neigen zu exzessivem Nachrichtenkonsum.

Auch das lässt sich psychologisch erklären: Wer in Krisenzeiten zwanghaft Nachrichten verfolgt und immer nach aktuellen Informationen sucht, fühlt sich unter Umständen informierter und dadurch „pseudo“-sicherer. Ich kann scheinbar schneller auf besondere Ereignisse reagieren. Exzessives Konsumieren von Nachrichten bietet also kurzfristig ein Kontrollgefühl. Wenn es aber zu viel wird, kippt das Kartenhaus irgendwann in sich zusammen, weil ich mit so vielen negativen Infos in Kontakt komme, dass es mich umhaut.

Haben soziale Medien diesen Trend verstärkt?

Der Ukraine-Krieg ist in der Art, wie wir Nachrichten konsumieren und wie Informationen zu uns gelangen, auf jeden Fall ein „neuer“ Krieg. So live waren wir noch nie dabei. Früher mussten die Menschen wochenlang auf Feldpost warten. Heute bekommen wir Nachrichten und sogar Videos von Kämpfern und Betroffenen direkt auf unser Handy. Das ist schon eine andere Dimension. Ob das aber besser oder schlechter für unsere Psyche ist, ist schwer zu sagen.

Wie meinen Sie das?

Wenn ich weiß, es herrscht Krieg und ich habe wie vor 80 Jahren fast überhaupt keine Informationen, was passiert und wie es meinen Freunden und Verwandten geht, stelle ich mir das auch sehr schwer vor. Einen gesunden Mittelweg für sich zu finden, das ist die große Herausforderung.

Wie genau sieht dieser Mittelweg aus?

Da muss jeder in sich selbst hineinhorchen, wie viele Informationen guttun und ab wann es zu viel wird. Es ist aber wichtig, eine Struktur beizubehalten. Wer gerne joggt, sollte auch weiterhin joggen. Andere wollen eher ihre Ruhe haben oder auf der Parkbank sitzen. Das ist sehr individuell. Man sollte aber auf keinen Fall den Alltag aus den Augen verlieren und der Unsicherheit nicht so viel Raum geben. Auch soziale Kontakte können dabei helfen, sich diesen Dauerängsten zu entziehen.

Ist ein kompletter Nachrichtenverzicht eine Lösung?

Bestimmte Verdrängungsmechanismen haben schon ihre Wertigkeit. Auch das ist eine Art, wie unsere Psyche arbeitet. Deshalb finde ich es völlig ok, Informationen zu einem bestimmten Thema von sich fernzuhalten oder stark zu reduzieren. Was anderes wäre, wenn jemand eine Wahrheit verleugnet und einfach behauptet, den Ukraine-Krieg gebe es gar nicht. Aber mal Abstand von einem Thema zu nehmen, um nicht übermannt zu werden, kann hilfreich sein.