Essen. In die USA reisen, den Führerschein machen, den Fahrplan lesen – all das war für Miguel Millan-Wieczorrek lange Zeit nicht selbstverständlich.

100.000 Kilometer in drei Jahren. Das hätte sich Miguel Millan-Wieczorrek nicht träumen lassen. Doch er hat es geschafft, nachdem er zahlreiche Kämpfe mit anderen und sich selbst führen musste. Jetzt ist er so stolz auf seinen Führerschein. Dass er ihn in den Händen hält, ist für ihn nicht selbstverständlich. Denn der 58-jährige Essener hat erst vor Kurzem Lesen und Schreiben und so das Leben mehr lieben gelernt.

Selbstständig einkaufen, den Busfahrplan lesen, ins Ausland reisen – all das war fast schier unmöglich, bevor Miguel Millan-Wieczorrek lesen und schreiben konnte. Und vor allem war da diese Angst. Angst, gehänselt und als Idiot abgestempelt zu werden.

Miguel Millan-Wieczorrek hat eine Behinderung, er zieht ein Bein nach. Die Zeit in der Hauptschule war für ihn die Hölle. Seine Mitschüler machten sich über ihn lustig, beschimpften ihn. Solche Menschen nennt er heute Analphabeten. Menschen, die keine Empathie und keine Mitmenschlichkeit empfinden können, Gefühls-Analphabeten.

Die Hänseleien führten dazu, dass der damals junge Miguel immer öfter die Schule schwänzte und irgendwann die Schule abbrach. Ohne Abschluss. So lange er mit seinen Eltern unterwegs war, kam er zurecht. Die Reisen in das Heimatland seines spanischen Vaters waren so möglich.

Doch er wurde älter und in ihm reifte der Wunsch, selbstständig zu sein, sein eigenes Geld zu verdienen. Nur wie, ohne lesen und schreiben zu können? Immer wieder ging er zum Arbeitsamt – bis er 1981 schließlich eine befristete Stelle als ABM-Kraft erhielt. Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hieß das damals. Auf einem Friedhof in Essen kümmerte er sich um die Grünpflege. Der Job machte ihm Spaß, er erledigte alle Aufgaben gewissenhaft, das Team war toll. „Es war wie eine kleine Familie“, sagt er. Die Mitarbeiter, vier insgesamt, waren allesamt älter. „Sie haben mich trotz meiner Behinderung akzeptiert.“

Der Wechsel in ein anderes, größeres Team

Doch der Job war befristet und konnte nicht verlängert werden. Der Chef legte ein gutes Wort für ihn ein. Miguel wechselte in den Grugapark, in ein großes Team. Ein großes Team bedeutete auch Gefahr. Gefahr, dass seine Lese- und Rechtschreibschwäche auffallen könnte. Er wollte nicht wieder gehänselt werden, wie damals in der Schule. Und so zog er sich zurück, seine Mittagspause verbrachte er allein, alles fixierte sich allein auf seine Arbeit. Er wollte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Er war einfach der fleißige Miguel. Doch dann wollte ein Kollege eines Tages aufschreiben, welche Materialien er besorgen soll. „Das war der absolute Horror“, sagt der 58-Jährige heute noch mit einem leichten Entsetzen in den Augen.

Sein Kopf war damals voll mit Ausreden für jede Gelegenheit, für den Arztbesuch, die Beratung in der Apotheke, den Einkauf im Supermarkt, die Arbeit. 25 Jahre lange hat er keinen einzigen Tag auf der Arbeit gefehlt. Doch dann klemmte er sich einen Nerv ein und wurde krankgeschrieben. In dieser Zeit suchte er auch eine Psychologin auf. Die erkannte seinen Analphabetismus und überzeugte ihn Stück für Stück, einen Alphabetisierungskurs bei der Volkshochschule (VHS) Essen zu besuchen.

Im Foyer brach ihm der Schweiß aus

Der Schweiß brach ihm aus, als er das Foyer der VHS betrat. Beinahe flüsternd sagte er an der Information, dass er hier sei, um Lesen und Schreiben zu lernen. Der Mensch an der Anmeldung war gar nicht überrascht – und so freundlich! „Da fiel schon eine Menge von mir ab“, erinnert sich Miguel Millan-Wieczorrek. Im Kursraum ging die positive Erfahrung weiter. Er sah erwachsene Menschen, die dasselbe wollten wie er. „Ich habe gesehen: Ich bin nicht allein“, schildert er. Seitdem ging er einmal pro Woche zum Unterricht, übte zuhause weiter. „Er war sehr fleißig“, weiß Meike Altenkamp, bei der VHS Essen für den Bereich Alphabetisierung zuständig.

Drei Jahre hat er gelernt und geübt. Er hat nicht nur Lesen und Schreiben gelernt, sondern auch Selbstsicherheit und Mut gewonnen. Und plötzlich sah er, was die Welt zu bieten hat. Er hat seinen Führerschein gemacht, ist in die USA gereist und hat sich dort auf die Spuren von Elvis Presley, dessen Fan er ist, begeben. Im nächsten Jahr will er nach Hawaii fliegen. Er will weiter arbeiten bis zur Rente, danach wird er all die Bücher über Elvis lesen, die er sich besorgt hat. Das Leben hat noch so viel zu bieten.

Info: Alfa-Telefon für wohnortnahe Alphabetisierungskurse

  • 6,2 Millionen Menschen in Deutschland gelten einer Studie der Universität Hamburg zufolge als Analphabeten. Das entspricht 12,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung.
  • Wer wissen möchte, wo in Wohnortnähe Alphabetisierungskurse angeboten werden, kann sich ans Alfa-Telefon wenden: 0800-53 33 44 55.