Amsterdam. In Anne Franks Tagebuch schrieb sie auch über ihre Schulfreundin. Nun ist Jacqueline Sanders-van Maarsen gestorben. Annes Schicksal ließ sie nie los.
Manchmal fragte sie sich, was Anne Frank wohl zu dieser Spätkarriere gesagt hätte. Die Amsterdamer Autorin Jacqueline Sanders-van Maarsen hat ihre Schulkameradin um 80 Jahre überlebt. Je älter sie wurde, desto ergriffener reagierten nachfolgende Generationen auf ihre bedrückenden Schilderungen. Ungläubig schüttelten Schüler die Köpfe, wenn sie die weißhaarige Dame mit rahmenloser Brille in der Aula erlebten: Wie bitte, Anne Franks engste Freundin lebt noch?
Jacqueline Sanders-van Maarsen, die nun im Alter von 96 Jahren gestorben ist, hat den Menschen der Gegenwart von den Schrecken der Nazi-Vergangenheit erzählt. Solange sie konnte, auch in Nordrhein-Westfalen hinterließ sie Spuren. Sie bleibt in Erinnerung als Anne Franks Weggefährtin, die deren Vermächtnis bis zu ihrem Tod weitertrug.
Auch interessant

Anne-Frank-Stiftung trauert um Annes beste Freundin
Die Autorin kommt mehrfach in Annes berühmten Aufzeichnungen vor. Die Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam, die Sanders-van Maarsens Tod öffentlich machte, erinnert an einen besonderen Besuch im früheren Wohnhaus des Mädchens: „Am 12. Juni 2019, Anne Franks 90. Geburtstag, war Jacqueline mit ihrem ehemaligen Klassenkameraden Albert Gomes de Mesquita in Anne Franks ehemaligem Haus am Merwedeplein. Sie waren auch an Annes 13. Geburtstag dort, drei Wochen bevor Anne und ihre Familie im Hinterhaus untertauchten. 77 Jahre später schwelgten Jacqueline und Albert in Erinnerungen und sprachen mit jungen Menschen über das Leben von Anne Frank und dessen Bedeutung.“
Die beiden Mädchen hatten sich 1941 kennengelernt. Beide waren zwangsweise auf das „Joods Lyceum“ gewechselt, das Jüdische Gymnasium, das Kinder aus jüdischen Amsterdamer Familien besuchen mussten. „Nach meinem ersten Schultag“, erinnerte sich Sanders-van Maarsen später, „radelte ich nach Hause und wurde von einem kleinen, dünnen Mädchen mit einem spitzen Gesicht und glänzendem, schwarzem Haar eingeholt. Sie rief meinen Namen und fragte, ob ich den gleichen Weg habe wie sie. Ich fragte, wie sie hieß. ,Ich heiße Anne‘, sagte sie, ,Anne Frank‘.“
Anne Frank war ein impulsives Mädchen
Der Beginn einer intensiven Beziehung. „Anne redete immerzu, erzählte mir viel von sich und wollte auch von mir alles wissen.“ Vom ersten Tag an seien sie „unzertrennlich“ gewesen. Am 15. Juni 1942 schrieb die damals 13-jährige Anne in ihr Tagebuch: „Sie ist jetzt meine beste Freundin.“ Wenig später tauchte Frank mit ihrer Familie unter und versteckte sich zwei Jahre lang in einem Amsterdamer Hinterhaus, dem heutigen Anne-Frank-Haus an der Prinsengracht. Jacqueline ahnte davon nichts. Sie dachte, die Franks seien zu Verwandten in die Schweiz emigriert.

Im September 1942 verfasste Anne im Versteck einen Brief an ihre Freundin, den sie – da sie ihn nicht abschicken durfte – ebenfalls in ihr Tagebuch übertrug: „Ich hoffe, dass wir einander schnell wiedersehen, aber das wird vermutlich nicht vor Ende des Krieges sein.“ Sie wünsche sich, „dass wir, bis wir einander wiedersehen, immer beste Freundinnen bleiben werden“.
Nur Sanders-van Maarsen überlebte den Krieg, beschützt von ihrer Mutter. Dass Anne tot war, erfuhr sie von deren Vater: „Einige Wochen nach der Befreiung stand Otto Frank vor unserer Tür. Er war allein und wirkte verstört. Ich begriff das alles nicht, bis er uns seine Geschichte erzählte: Sie hatten sich in der Prinsengracht versteckt, waren verraten und mit dem letzten Transport nach Auschwitz deportiert worden.“
Anne Franks beste Freundin: Hannelore Kraft verlieh ihr den NRW-Verdienstorden
Sie heiratete in den 50er-Jahren einen Jugendfreund, bekam Kinder und Enkel. Aber das Schicksal ihrer Klassenkameradin ließ sie nicht los. Seit den 90er-Jahren schrieb Sanders-van Maarsen Bücher. Das erste erschien 1997 auf Deutsch: „Meine Freundin Anne Frank“. Das letzte veröffentlichte sie 2013, es trägt den Titel „,Deine beste Freundin Anne Frank.‘ Erinnerungen an den Krieg und eine besondere Freundschaft“.
Die Erinnerung hielt sie auch wach, indem Jacqueline Sanders-van Maarsen im Kreis Euskirchen, ganz im Süden NRWs, einen Anne-Frank-Gedenkbaum pflanzte. 2016 verlieh ihr die damalige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) den Landesverdienstorden.
Sanders-van Maarsen war spät in ihrem Leben zu einer vielgehörten Zeitzeugin geworden. Ausgerechnet sie: Im Gegensatz zu Anne Frank war sie ziemlich schüchtern. Sie würde Anne gerne fragen, schrieb Jacqueline, „was sie von ihrer introvertierten Freundin von damals denkt, die nun regelmäßig im Scheinwerferlicht steht, um über sie zu sprechen“.