Essen/Münster. Wie liberal und tolerant sind die Niederlande wirklich? Prof. Friso Wielenga von der Uni Münster räumt mit Klischees über unsere Nachbarn auf.
Professor Friso Wielenga ist Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster und forscht zu deutsch-niederländischen Beziehungen und politischen Entwicklungen beider Länder. Im Interview erklärt er die Entstehung von Niederlande-Klischees, das Aufkommen des Rechtspopulismus – und warum in den Niederlanden einfach schneller geduzt wird.
Welche Vorstellungen herrschen in Deutschland über die Niederlande?
Es ist wichtig zu sagen: Es gibt den Niederländer nicht, wie es auch die Niederlande nicht gibt. Es ist immer so, dass in der Außenwahrnehmung vereinfacht wird, um sich eine komplexe Gesellschaft zu erschließen. Die Niederlande sind ein diverses Land mit großen regionalen Unterschieden. Jede der zwölf Provinzen hat ihre Eigenheiten. Wenn Sie in Friesland sagen, „schön hier in Holland“, haben Sie ein Problem. Dann wird Ihnen auf Friesisch geantwortet, dass Sie eben nicht in Holland sind und diesen Fehler nicht noch einmal machen sollten.
Die Begriffe Holland und Niederlande werden ja oft synonym verwendet.
Weil Holland – heute sind das die Provinzen Nord- und Südholland - seit Jahrhunderten das politische und wirtschaftliche Machtzentrum des Landes ist. Niederländer sagen übrigens im Ausland oft auch selbst, dass sie aus Holland kommen. Aber die Regierung hat vor Kurzem festgelegt, dass in offiziellen Informationen nur noch der Begriff Niederlande benutzt werden soll.
In Deutschland gelten die Niederlande als liberales Land. Hält dieses Bild noch Stand?
Dieses Image bröckelt schon seit Jahren – vor allem durch das Aufkommen des Rechtspopulismus um Geert Wilders und Thierry Baudet. Da kann man sich von Außen schon fragen: Was ist los bei euch? Die Niederlande wirkten früher oft vorbildhaft - übrigens sei es dahingestellt, ob sie das auch wirklich waren. Dieses Bild ist sehr brüchig geworden. Die typisch niederländische Liberalität ist ein Klischee. Was aber natürlich nicht heißt, dass es in den Niederlanden in breiten Kreisen keine Liberalität und Toleranz gibt. Aber das Klima ist rauer und härter geworden.
Liberalität und Toleranz einerseits, Populismus andererseits: Wie passt das zusammen?
Man muss die Liberalität historisch aus einer pragmatischen Perspektive betrachten. Die Niederlande waren immer ein Land von Minderheiten, und das machte pragmatische Zusammenarbeit notwendig. Ab dem späteren 19. Jahrhundert kam die „Versäulung“ der Gesellschaft hinzu - also die Aufteilung der Gesellschaft in unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen „Säulen“. Diese Gruppen lebten bis in die 1960er Jahre weitgehend getrennt voneinander, während auf der politischen Ebene die Eliten der „Säulen“ pragmatisch zusammenarbeiteten. Das war in den Niederlanden stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Es galt: Ich lasse dich in Ruhe, wenn du mich in Ruhe lässt. Hauptsache, wir kommen gemeinsam voran. Somit sind auch Orientierung auf sich selbst und und fehlendes Interesse an anderen gesellschaftlichen Gruppen wichtige Bestandteile der historischen Liberalität. Das passt schon auch in die heutige Zeit des Populismus.
Viele niederländische Gesetze – etwa für Schwangerschaftsabbrüche und Sterbehilfe – sind tatsächlich deutlich liberaler gefasst als in Deutschland.
In den Niederlanden muss der Staatsanwalt nicht gegen alle Vergehen vorgehen wie in Deutschland, Verstöße können auch „geduldet“ werden. Auch hier wird oft eher pragmatisch vorgegangen, wie in der Drogenpolitik. Das hat die Debatte vereinfacht, die Gesetzgebung an die Praxis anzupassen. Das ist wirklich typisch niederländisch. Mit der Sterbehilfe ist es anders. Da gibt es schon sehr klare Regelungen, die allerdings den Bürgern viel mehr Spielraum bieten als in Deutschland. Das Thema Sterbehilfe ist in Deutschland aufgrund der NS-Vergangenheit historisch vorbelastet. In den Niederlanden ist der Begriff „euthanasie“ kein Problem, so wird die Sterbehilfe meistens genannt.
In der medialen Diskussion um das Corona-Hilfspaket der EU wurde Niederlandes Premier Mark Rutte als sparsam bis geizig dargestellt. Hat das auch mit Klischees zu tun – etwa der calvinistischen Sparsamkeit?
Diese Darstellung passt generell eher in eine Wahrnehmungstradition zwischen Nord- und Südeuropa. Auch Österreich oder Finnland haben ähnliche Positionen vertreten. Die Niederlande haben in der EU von Anfang an sehr auf ihre eigenen Interessen geachtet. Das fällt jetzt aber besonders auf, weil Großbritannien raus ist und die deutsche Position sich gedreht hat. Seit 20 Jahren ist in den Niederlanden eine Sättigung zu beobachten, was die europäische Integration betrifft. In der Politik und Öffentlichkeit dominiert Europragmatismus. Was allerdings nicht heißt, dass die Niederlande jetzt euroskeptisch geworden sind. Etwa 20 Prozent der Wähler ist für einen Nexit. Die übergroße Mehrheit sieht die EU als vorteilhaft für die Niederlande und möchte sicherlich nicht austreten.
Wie steht es um die vermeintliche Lockerheit der Menschen in den Niederlanden?
Ich würde sehr aufpassen mit dem Begriff Charakter. Es handelt sich um einen historisch gewachsenen Umgang miteinander. Vielleicht erscheinen die Menschen in den Niederlanden lockerer, es wird schneller geduzt, auch auf der Arbeit, in Geschäften, Restaurants etc. Tatsächlich ist der Umgangston meistens etwas informeller als in Deutschland, aber auch hier gibt es regionale Unterschiede.
Was nicht heißt, dass die Mitarbeitenden mit ihren Vorgesetzten befreundet sind.
Es wäre falsch, den Schluss zu ziehen, dass es in den Niederlanden weniger Hierarchien gibt. Sie funktionieren nur anders, nicht in so expliziten Formen wie in Deutschland. Gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen, ist eng mit der politischen Kultur der Niederlande verwoben. Es gibt den Begriff des „Poldermodells“. Der Polder ist ein Stück Land unter dem Meeresspiegel. Der Kampf gegen das Wasser gilt für alle, egal ob adelig, reich oder arm.
Wie blicken Menschen in den Niederlanden auf Deutschland?
Seitens der Niederlande gab es lange Bilder und Klischees, die auf den Zweiten Weltkrieg zurückzuführen waren. Das ist nun aber wirklich Geschichte und liegt hinter uns. Die Beziehungen sind wirklich sehr gut. Das heißt aber nicht, dass es nur positive Deutschlandbilder gibt. Ein nicht unwichtiger Faktor ist der Klein-Groß-Gegensatz: die Niederlande sind kleiner und politisch und wirtschaftlich schwächer. Das führt aufseiten des kleineren Landes zu einer gewissen Abgrenzung, oder wenn man so will, zu einem strukturellen Spannungsfeld: „dutch“ ist nicht „deutsch“ und die Niederlande sind eben nicht das 17. Bundesland. Das kann auch mal zu Reibungen führen, aber das ist normal. Was aber natürlich nicht heißt, dass man nicht weiter an guten Beziehungen arbeiten muss.