Keyenberg. Die Anti-Kohle-Bewegung hat viele bedrohte Dörfer im Revier gerettet. Jetzt beginnt die Zeit, in der ihnen neues Leben eingehaucht werden soll.

Der heutige Dienstag ist ein besonderer, ein einschneidender Tag im Leben von Ingo Bajerke. An diesem Tag beginnt sein Abschied von seiner alten Heimat, dem Dorf, in dem seine Familie seit 1946 gelebt hat, in dem seine Eltern beerdigt worden sind, in dem er aktiv bei der Feuerwehr, dem Spielmannszug, dem Karnevalsverein war, in dessen Kirche er bis zuletzt als Lektor gedient hat.

Heute ist die Übergabe des neuen Hauses, in das Bajerke ziehen wird, in dem sterilen Retorten-Dorf, das unter Neu-Keyenberg firmiert. Dabei, und das macht diesen Tag noch schwieriger als er ohnehin gewesen wäre, fällt sein altes Dorf höchstwahrscheinlich doch nicht der Braunkohle zum Opfer, obwohl das jahrelang unausweichlich schien.

Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht in dürren Worten: „Die im dritten Umsiedlungsabschnitt betroffenen Dörfer im Rheinischen Revier wollen wir erhalten.“ So nüchtern klingt, was all jene als Triumph feiern, die in den vergangenen Jahren dagegen kämpften, dass noch mehr Dörfer südlich von Mönchengladbach in der gigantischen Grube des Tagebaus Garzweiler verschwinden. Der Kampf schien aussichtslos.

Ein trauriges Weihnachtsfest

Das Kohlegesetz aus dem Sommer 2020 schrieb auf Druck der Landesregierung und des Energiekonzerns RWE die „energiepolitische Notwendigkeit“ des Tagebaus fest, in ihrer Leitentscheidung aus dem Frühling vergangenen Jahres vertagte die Landesregierung die Entscheidung über die Zukunft der Dörfer lediglich. Jetzt sollen sie bleiben, so wie der Hambacher Wald. Die Frage ist nun, wie es weitergeht.

In Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich und Berverath stehen zusammen rund 400 Häuser leer. Die allermeisten Bewohner haben sich von RWE überzeugen lassen, ihr Eigentum zu verkaufen. Ende 2019 starb Ingo Bajerkes Mutter. Sie war die Letzte, die auf dem Friedhof von Keyenberg beerdigt wurde. „Mir war klar, dass ich die Segel streichen muss, weil ich ansonsten gemütskrank werde. Die Dorfgemeinschaft ist ja zerstört“, sagt Bajerke. Also gab er seinen Widerstand auf und verkaufte.

Bis zuletzt kämpfte er für den Erhalt der alten Kirche. Im Dezember wurde sie entwidmet. „Das war ein schwerer Schlag“. Weihnachten 2021, das sei das schlimmste Weihnachten seines Lebens gewesen, sagt Bajerke. „Es war kein Glockengeläut zu hören. Es war dunkel im Dorf.“ Natürlich, sagt er, freut er sich, dass das Dorf nun wahrscheinlich nicht zerstört wird. Seine Erinnerungsorte werden nicht ausgelöscht. „Aber bis Oktober werde ich Keyenberg endgültig verlassen.“

Barbara Ziemann-Oberherr bleibt, sie hat sich geweigert an RWE zu verlaufen und will neues Leben in ihr Dorf Keyenberg bringen.
Barbara Ziemann-Oberherr bleibt, sie hat sich geweigert an RWE zu verlaufen und will neues Leben in ihr Dorf Keyenberg bringen. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Barbara Ziemann-Oberherr wird bleiben. Sie hat Widerstand bis zuletzt geleistet und nicht verkauft. Mit ihr sind es etwa 60 der früher 900 Einwohner von Keyenberg, die geblieben sind und bleiben wollen. „Die Freude ist riesig, dass die Dörfer wahrscheinlich bleiben. Aber jetzt fängt die Arbeit an, sie zu gestalten“, sagt sie. Im vergangenen Frühjahr haben sie mit den anderen bedrohten Dörfern eine neue Gemeinschaft gebildet. „Die Zukunftsdörfer“, haben sie sie genannt. „Wir wollen die Dörfer mit Erneuerbaren Energien wieder aufbauen.“

In Keyenberg haben sie bereits Photovoltaik-Anlagen mit einer Gesamtleistung von 78.000 Kilowattstunden installiert. „Es wird dauern, bis hier wieder Leben reinkommt“, ahnt Ziemann-Oberherr. „Aber wir haben hier eine gute Verkehrsanbindung und wir haben einen Kindergarten und eine Grundschule.“ Es gibt die ersten Menschen, die ihr altes Eigentum zurückkaufen wollen. Bislang weigert sich RWE.

Stephan Muckel denkt längerfristig. Er ist Bürgermeister der Stadt Erkelenz, zu der die Dörfer gehören. 90 Prozent in den Dörfern seien bereits umgesiedelt oder würden noch umgesiedelt. „Aber wir werden etwas Neues entwickeln, das ist ja eine hochattraktive Lage.“ Man werde prüfen, ob ein Vorkaufsrecht möglich ist, vielleicht könne man ja die an RWE verkauften Flächen mit der Unterstützung des Landes zurückerwerben. In den nächsten Jahrzehnten wird die gigantische Braunkohle-Grube geflutet werden, das wird Jahrzehnte dauern, aber dann wird bei Keyenberg ein riesiger See entstehen. Wunderbar für Naherholung und Wohnen. Muckel sagt auch: „Wir haben von Absichtserklärungen genug. Wir brauchen endlich verlässliche Regelungen auf Bundes- und auf Landesebene.“

RWE weist darauf hin, dass bereits in der aktuell geltenden Leitentscheidung vorgesehen sei, den 3. Umsiedlungsabschnitt, in dem die Dörfer liegen, nicht vor 2026 in Anspruch in Anspruch zu nehmen. „So können aktuelle Entwicklungen berücksichtigt werden“, teilt ein Sprecher auf Anfrage mit. „Das Unternehmen ist offen für Gespräche, um den Wandel aktiv mit zu gestalten. Das schließt Fragen zum 3. Umsiedlungsabschnitt mit ein“, so der Sprecher.