Naarden. Niederlande feiert die Befreiung von den Deutschen vor 75 Jahren. Ein fesselndes Buch erzählt die Geschichte von zwei Schwestern im Widerstand.
Als Roxane van Iperen im Jahr 2012 mit ihrer Familie in eine abgelegene, alte Villa etwa 20 Kilometer von Amsterdam entfernt zieht, ahnt sie nichts von der erschütternden Vergangenheit dieses Hauses. Sieben Jahrzehnte vorher befindet sich hier eine Zelle des niederländischen Widerstands gegen die Besatzung durch die Nazis. Zwei jüdische Schwestern, enge Freundinnen von Anne und Margot Frank, verstecken hier während der Verfolgung durch Hitlers Schergen zahlreiche verfolgte und somit von ihrer Hinrichtung bedrohte Juden. In ihrem ab dem 1. April auch auf Deutsch erhältlichen Buch „Ein Versteck unter Feinden“ – in ihrer Heimat unter dem Originaltitel „t’Hoge Nest“ erschienen – erzählt die Autorin Roxane van Iperen die bewegende Geschichte von Lien und Janny Brilleslijper.
„Als wir auf den Waldweg einbiegen und sich das Haus zwischen den Bäumen zeigt, hat es uns verzaubert. Die Redensart ‘ein Häuschen im Grünen’ - und genau danach hatten wir gesucht – entspricht nicht ganz der Realität, denn dieses Haus ist riesig und trägt sogar einen eigenen Namen: Das Hohe Nest“, schreibt die Autorin in ihrem Vorwort. Und weiter: „Unser Blick gleitet über die stattliche Fassade, die mit Efeu bewachsenen Steinmauern und die alten Fensterläden. Aus allem hier spricht Geschichte, Größe, aber ohne das Prätentiöse oder Steife, das sonst damit einhergeht. Wir schauen uns an und denken: Wenn wir hier leben könnten. Das Unvorstellbare wird Wirklichkeit. Im Spätsommer des Jahres 2012 ziehen mein Mann und ich mit unseren drei kleinen Kindern, einem Altdeutschen Schäferhund und drei Katzen mit einem ‘Mobile Home’ in den Garten des Hohen Nestes.“
Von hier an könnte die Familie van Iperen von der Renovierung ihres neuen Zuhauses berichten, wie in der alten Villa bald alles wohnlich wird und das Leben seinen gewohnten Gang – nur halt in einer wunderschönen, anderen Umgebung – geht.
Doch dann kommt alles ganz anders...
Doppelte Böden
Beim Entkernen der alten Gemäuer erleben die glücklichen neuen Häuslebesitzer nämlich eine Überraschung. „Mit bloßen Händen ziehen wir den Bodenbelag ab und entdecken in nahezu jedem Zimmer Luken im Holzboden und Verstecke hinter alten Vertäfelungen. Dort finden wir Kerzenstummel, Notenblätter und Zeitungen des Widerstands aus dem Zweiten Weltkrieg“, schreibt Roxane van Iperen weiter in ihrem Vorwort.
So beginnt die Geschichte vom „Versteck unter Feinden.“
Roxane van Iperen macht sich sofort auf die Suche nach der Geschichte dahinter, als erstes fragt sie natürlich die Vorbesitzerin des Hauses, was es mit ihren Entdeckungen im „Hohen Nest“ auf sich hat. Sie löchert Nachbarn und Ladenbesitzer aus dem Ort, stürzt sich in Kataster und Archive, um herauszufinden, was sich hier vor 70 Jahren abgespielt hat.
Die Wahrheit, die sich nach vielen Recherchen auftut, ist erschütternd und macht zugleich Mut: Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, als die Züge in die deutsche Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager voll sind und die Deutschen auf die „Endlösung der Judenfrage“ dringen, errichten zwei jüdische Schwestern im „Hohen Nest“ ein Zentrum des Widerstands und verstecken etliche Verfolgte.
Rebekka „Lientje“ Brilleslijper kommt im Jahr 1912 in Amsterdam zur Welt, vier Jahre später folgt Marianne „Janny“ und 1921 Sohn Jacob „Japie“. Die Familie lebt im ärmlichen Judenviertel Amsterdams, Papa Joseph ist Arbeiter im Großhandel von Opa Jaap, die beiden Schwestern müssen nach ihrem Abschluss an der Volksschule früh arbeiten, damit der Lebensunterhalt reicht. Als in Deutschland Hitler an die Macht kommt und „die braune Pest“ sich bald auch in den Niederlanden ausbreitet, ist „Janny“ die erste, die sich politisch engagiert. Lien, die ältere, lebt zu der Zeit in einer Künstlerkommune in Den Haag – und verliebt sich ausgerechnet in einen Deutschen. Im September 1939 heiratete sie den Musikwissenschaftler, der vor den politischen Verhältnissen in seiner Heimat in die zu der Zeit noch neutrale Niederlanden geflohen ist.
Als am 10. Mai 1940 deutsche Panzer die Grenze zum Nachbarn überqueren, wird auch den gutgläubigsten unter den Niederländern klar: Jetzt wird es ernst! In der sich zuspitzenden Lage gerade in der jüdischen Bevölkerung rücken die Brilleslijper-Schwestern noch enger zusammen. Es dauert nicht lange, bis die Nazis das Judenviertel in Amsterdam „säubern“ und von hier aus die ersten Züge ins Zwischenlager Westerbork fahren, ehe sie später in die deutschen Vernichtungsfabriken Auschwitz oder Bergen-Belsen gebracht werden. Für Lien und Janny Brilleslijper, beide mit kleinen Babys, beginnt eine Zeit des sich Versteckens – und des Aufbegehrens gegen die deutschen Besatzer.
Der Widerstand
Die Wohnung der erneut schwangeren Janny und ihres Mannes Bob Brandes in Den Haag wird zu einer Keimzelle des Widerstands. Sie bieten sogenannten Staatsfeinden Unterschlupf: Juden auf der Flucht, Widerstandskämpfern und Mitgliedern der verbotenen Kommunistischen Partei. Sie geben sogar eine illegale Zeitung heraus: „Het Signaal“, in ironischer Anspielung auf die deutsche Propagandaschrift „Das Signal“.
Lien und ihr Mann Eberhard widmen sich zu der Zeit noch ihrer Karriere als Künstler – auch wenn die Möglichkeiten für Auftritte immer weniger werden. Als Lien und Janny beinahe zeitgleich ihre Töchter Lieselotte und Kathinka zur Welt bringen, rücken die beiden Brilleslijper-Schwestern wieder ganz eng zusammen.
Währenddessen wird Lienes Mann Eberhard trotz einer radikalen Hungerkur, mit der er sich bei der Musterung eine Einstufung als untauglich für den Wehrdienst erhofft, einberufen. Er soll sich am 15. Januar 1942 bei einem Regiment in Wolfenbüttel melden und dort Büroarbeit für die NSDAP verrichten. Eberhard ist klar: er wird verweigern und somit zu einem Staatsfeind! Da sein Todesurteil zumindest indirekt gesprochen ist, muss er abtauchen. Das Selbe gilt für Jannys Mann Bob, den niederländischen Widerstandskämpfer. Die jungen Familien sind fortan getrennt, die Frauen mit ihren kleinen Kindern zunächst allein. Später, als Amsterdam schon zum Ghetto wird, finden sie zunächst Unterschlupf in Bergen. Am 30. Januar 1943 unterzeichnen Eberhard und Janny schließlich unter falschen Namen einen Mietvertrag für ein Haus am Driftweg 2 in Naarden – das Hohe Nest.
Fast eineinhalb Jahre wird die Villa am Wald, umgeben von niederländischen Nazis, zum Versteck für etliche Verfolgte, ehe es im Sommer 1944 doch verraten und gestürmt wird. Janny und Lien kommen ins Lager Westerbrok – und dann gemeinsam mit Margit und Anne Frank in den letzten Zug nach Auschwitz. Bis zu Anne Franks Tod im KZ Bergen-Belsen bleiben die vier zusammen.
Wie, das erzählt Roxane van Iperen – spannend und natürlich bedrückend zugleich.
Roxane van Iperen, „Ein Versteck unter Feinden“erscheint am 1. April im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; ISBN 978-3-455-00645-2; 398 Seiten, Hardcover; 24,- Euro.