Bei den Offenlegungen zum Münchener Missbrauchsfall war selbst den Gutachtern Verzweiflung anzumerken. Zu recht, meint unser Autor.
Mal wieder ein Gutachten, mal wieder eine neue Zahl von Missbrauchstaten, fast 500, davon viele an minderjährigen Jungen, mal wieder das Eingeständnis, dass dies nur die sichtbare Spitze des Eisbergs ist und mal wieder diese Melange aus Verheimlichen und Nicht-Wissen-Wollen, um den Ruf der Kirche nicht zu gefährden.
Doch dieses Mal war es doch noch mal etwas anderes. Dieses Mal konnte man den Gutachtern selbst so etwas Ermüdung und Verzweiflung anmerken. Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), ist jene Kanzlei, deren 2018 beauftragte Gutachten für das Kölner Erzbistum der dortige Erzbischof Woelki zurückhielt mit Verweis auf „methodische Mängel“.
„Rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes
Auch das Erzbistum München hatte ein erstes Gutachten, das 2010 bei dieser Kanzlei in Auftrag gegeben wurde, nicht veröffentlicht – aus Datenschutzgründen. Bekannt wurde, dass schon damals die Kanzlei WSW den Klerikern einen „rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes“ bescheinigte und den Verdacht äußerte, staatliche Justiz habe es sich mit der Kirche nicht verscherzen wollen. Der Satz „Bei einem römisch-katholischen Richter ist das Verfahren in guten Händen“ sei gefallen, so die Gutachter.
Am Donnerstag machten sie noch einmal deutlich: Die katholische Kirche arbeitet immer noch als „Verantwortungsverdunstungsbetrieb“, wie es Christine Florin vom Deutschlandfunk formulierte.
Ehemaliger Papst der Lüge überführt
Deswegen riefen die Gutachter jetzt gezielt die höchsten Würdenträger zur Verantwortung. Die Erzbischöfe und Generalvikare – und damit auch den ehemaligen Papst, der am Donnerstag, man kann es nicht anders formulieren, der Lüge überführt wurde. „Du sollst nicht falsch Zeugnis geben“ – das achte Gebot. Hinzu kommt ein über Jahrzehnte währender Verstoß gegen den Grundsatz der christlichen Nächstenliebe: sich um die Schwächsten zu kümmern. Dazu gehören auch Opfer des Missbrauchs.
Doch Gutachter Ulrich Wastl machte deutlich: Die wollen und können in den meisten Fällen keinem Mann mit schwarzen Pullover und weißem Kragen mehr gegenübertreten.
Katholische Kirche muss sich als Täterorganisation verstehen
Gutachterin Westpfahl wurde ungewohnt persönlich: Vor der ersten heiligen Kommunion sei sie mit zehn Jahren mit dem ebenfalls heiligen Sakrament der Beichte konfrontiert gewesen, das die Schritte Gewissenserforschung, Bekenntnis, Reue umfasse, und erst dann Vergebung verheiße. Die Gutachter vermissen immer noch den ersten Schritt bei den hochrangigen Vertretern der Kirche, das mit der Selbstbefragung beginnt: War oder bin ich Bestandteil eines Systems, das bis 2010 total versagt hat und war es mir nicht möglich, dagegen zu opponieren? War es mir nicht möglich, zu sehen, dass der Missbrauch an Kindern zu großem Leid führt?
Welches Heil ist von einer Kirche zu erwarten, in der der ehemalige Papst noch heute meint, es sei doch kein Missbrauch, dass sich ein Mann vor Minderjährigen entblößt. Er habe die Kinder ja nicht berührt und sei in der Situation nicht als Priester erkennbar gewesen...
Dass die katholische Kirche zumindest in Deutschland sich selbst als Täterorganisation verstehen muss, kann spätestens heute nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Menschen, die sich noch zu dieser Kirche bekennen und den bitteren Wahrheiten ins Gesicht sehen, sind mittlerweile der Verzweiflung nahe.